Ihr mögt den Kopf schütteln und Zweifel hegen, wenn ich behaupte: Goethe rettete mir das Leben. Und doch ist es wahr. Er befreite mich ‑namentlich durch seine Gegenwart aus der Vorhölle des GULAG, aus Stalins mörderischer Kerkerhaft.
Im Februar 1950 fiel ich wie viele meiner Mitschüler einer grausamen Verhaftungswelle zum Opfer. Sie brachte mich, den 19-jährigen, in das NKWD-Gefängnis von Schwerin. Während einer mehrwöchigen Einzelhaft kam es dort wiederholt zu nächtlichen Verhören. Nach Mitternacht saß ich dann bis zwei oder drei Uhr früh, von Scheinwerfern angestrahlt, an einem großen Tisch dem sowjetischen Geheimdienst-Offizier gegenüber, der aus dem Dunkel heraus seine Fragen stellte.
Zuvor hatte mir eine Uniformierte, die Dolmetscherin, von ihrem Platz an der rechten Tischseite her eine Art Bobonniere gereicht, aus der ich mich, freundlich dazu aufgefordert, bedienen sollte. Sobald ich, hungrig genug, zwei oder drei der Pralinen mit Kakaogeschmack und reichlich Zucker verschlungen hatte, gab der Offizier, indem er mich prüfend ansah, der Dolmetscherin einen dezenten Wink, worauf diese die Konfektschachtel verschloß und beiseite stellte.
Minuten später, das Verhör hatte soeben begonnen, geriet ich in einen geradezu übersinnlichen Zustand: Aus einem Nebenraum oder vom Korridor her, den es eigentlich nicht gab, vernahm ich vertraute Stimmen, die ich teils meinen Eltern, teils anderen, mir nahestehenden Personen zuordnen konnte. Zunächst erfreut darüber, da der ruhige und heitere Tonfall mir das baldige Ende meiner Haft anzukündigen schien, bemerkte ich bald, daß ich einer Halluzination erlegen war. Mit den Pralinen hatte man mir Drogen eingegeben und mich für die Vernehmung präpariert.
Obwohl meine Russisch-Kenntnisse beinahe ausreichten, um die Fragen des Offiziers nach meinem Schul- und Interantsleben, meinen Kontaktpersonen, den Mitschülern und Lehrern, unmittelbar zu verstehen, kam mir die Übersetzung der Fragen und Antworten durch die Dolmetscherin sehr entgegen.
Ich gewann auf diese Weise wertvolle Sekundenbruchteile zum Überlegen und Formulieren. Das Gespräch kroch, ohnehin verzögert durch die Übersetzung, umso träger dahin, je öfter es mir gelang, das eine oder andere Unverdächtige Unterrichtsthema, zumal Gedanken über den in der Abiturklasse gerade eingehend besprochenen „Faust“, zu wiederholen, zu variieren und auszudehnen.
Am Verhalten des Offiziers hatte ich, trotz der Dunkelheit, in der er saß, bald erkannt, woran er außerordentlich oder eher weniger interessiert war. So vermochte ich an bestimmten Reaktionen, einer winzigen Veränderung seiner Körperhaltung, einer angedeuteten Handbewegung, am Ton und Tempo einer Frage, an der Ungeduld, mit der sie vorgebracht wurde, auszuloten, wo die Grenzen meiner Verzögerungs- und Ablenkungsversuche lagen, ob sie bereits erreicht oder gar überschritten waren.
Die größte Kunst bestand darin, dümmliche Aufrichtigkeit zu zeigen. Das größte Risiko war, dabei ertappt zu werden. Seltsamerweise hatte ich nie den Eindruck, daß die Drogenwirkung mein Denkvermögen eingeschränkt oder nachteilig verändert hätte. Im Gegenteil, meine Aufmerksamkeit, meine Konzentrationsfähigkeit und das unverzügliche Erfassen kritischer Gedankengänge erreichte, wie mir schien, einen Höhepunkt. Daß ich Personen, namentlich solche, die mir täglich begegneten, dabei belastet haben könnte, vermag ich nach aller Erfahrung mit dem System letztlich nicht auszuschließen, konnte doch, wie Zeugnisse belegen, eine Namensangabe bereits zum Todesurteil führen.
So oft ich im Verhör nach Personen gefragt wurde, die mir nicht oder nicht näher bekannt waren, wehrte ich, so bohrend der Vernehmende mitunter auch verfuhr, die Antwort darauf entschieden ab, was mir, auch bei erneuten Nachfragen, stets gelang – mit einer einzigen wahnwitzigen Ausnahme. Diese aber bestätigt, seltsam genug, das Regelhafte meiner Verhaltensweise. Eine plötzliche Eingebung gestaltete in jener Nacht dieses denkwürdige Verhör. Bei der wörtlichen Rede folge ich meinem Gedächtnis oder dem, was die Erinnerung mir davon aufbewahrt hat.
„Kennen Sie Götte?“, lautete die entscheidende Frage des Offiziers. Natürlich kannte ich den Namen, „Gö, Doppel-t, e“, hatte den früheren Mitschüler und jetzigen Studenten gesehen und von seiner Aktivität als geheimer Nachrichtenkurier und Verbindungsmann zur Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit in West-Berlin gehört. Doch kannte ich ihn weder persönlich näher, noch wußte ich seinen Verbleib. Wie sollte ich antworten? Da entdeckte ich im Tonfall, mit dem der Offizier den Namen aussprach, blitzartig die Spur einer Chance. Russisch ausgesprochen, klingt Götte wie Gjöte. Und augenblicklich wurde aus dem gesuchten Werner Götte für mich Wolfgang Goethe.
Ich beantwortete die Frage mit „Ja“ und merkte sogleich, daß der Offizier ein wenig näher an den Tisch heranrückte. Wichtiges Thema, dachte ich. Paß gut auf! Und schneller als sonst kam, leicht seitlich zur Dolmetscherin gewendet, der nächste Satz: „Frag ihn, wo Gjöte ist“.
Ich wußte es nicht. Hätte ich aber zutreffend geantwortet, wäre der Gesprächsfaden zu Ende gegangen. Um Zeit zu gewinnen, sagte ich, „Das weiß hier doch jeder”. Sein Interesse wuchs. Er richtete sich auf. Vorsicht hämmerte es in meinem Kopf. “Wo Gjöte sich jetzt aufhält, will ich wissen”, sagt der Offizier. Die Dolmetscherin übersetzt: „Sie sollen nur sagen, wo Götte wohnt“. Ohne überlegen zu müssen antwortete ich: „In Weimar“. „Wieso in Weimar?“, wiederholt er und fragte nach einer kleinen Pause: „Wo in Weimar? Frag ihn nach der Adresse!“.
Jetzt galt es ,mich zu bekennen: „Goethe ist tot. Er ist dort gestorben“. „Wieso gestorben!“, ruft er. „Frag ihn: Wann und wie?“. Mit dem naiven Erstaunen des Oberschülers antworte ich: „Aber das ,weiß doch jeder. Goethe starb am 23. März 1832 in seinem Haus in Weimar“. Kaum hatte die Dolmetscherin ihren Satz beendet, da haute der Offizier mit den Fäusten auf den Tisch und schrie: „Durak!“. Verdammter Idiot! Er sprang auf und verließ mit Flüchen und Beschimpfungen den Raum.

Für mich war es das letzte nächtliche Verhör. Ich kam in eine Zweibett-Zelle , die ich bis zur Entlassung mit einem Maurer teilte. Den ersten Tag und die halbe Nacht sprachen wir, mißtrauisch jeder gegen jeden, kein Wort miteinander. Voller Argwohns kamen wir schließlich überein, das in der Einzelhaft so schrecklich aufgestaute Schweigen zu beenden und miteinander zu reden, aber ausschließlich über unverdächtige Dinge.
Erfahren im Bau von Fabrikschornsteinens erzählte der Maurer mir dann tage- und nächtelang von allen möglichen Formen und Materialien der Baukunst. Theoretisch erlangte ich Gesellenreife, die ich im Falle einer Deportation nach Sibirien auch praktisch hätte nutzen können.
Entlassen mit der Verpflichtung kein Sterbenswort über das in der Haft Erlebte zu sagen und zu einem vorgegebenen Termin erneut zu erscheinen, floh ich, um nicht Russenspitzel werden zu müssen, unter schmerzlichem Verzicht auf das unmittelbar bevorstehende Abiturs bei Nacht und Nebel nach West-Berlin. Dort erwartete mich Werner Götte mit dem Ausruf: „Gut, daß Du da bist. Wir haben schon auf Dich gewartet“.
Daß ich aber frei kam und überleben durfte, verdanke ich‑nach meiner festen überzeugung‑ jener einzigartigen geistigen Gegenwart Goethes.
Ihm weiß ich mich verbunden bis ans Ende meiner Tage.