Prof. Dr. med. Franz Klaschka

In Memoriam *1930 – †2006

„Blutstraße“ – Oberschulzeit in Parchim, 1946-1950

Gliederung der folgenden Kapitel:

    • Blutstraße
    • Die Verhaftung
    • Gefangenschaft
    • Einzelhaft
    • Prüfung

Blutstraße

Zur Oberschule in der Blutstraße von Parchim brachte mich der reine Zufall, aus heutiger Sicht eher ein gütiges Geschick. Im Juni 1945 aus der sudetendeutschen Heimat vertrieben und in Zwangsarbeit auf ein tschechisches Landgut verbracht, wo ich eineinhalb Jahre lang Pferdeknecht war, kamen wir, meine Eltern und ich, wie vor und nach uns weitere drei Millionen Landsleute, im September 1946 mit dem Güterzug, in jedem Waggon unserer 48 bis 50 Stück, auf Stroh gebettet, vorbei an Prag, durch das Elbsandsteingebirge nach Deutschland in die „russische Zone“ und hier über Dresden und Berlin nach Mecklenburg-Vorpommern. In Demmin, nach dreitägigem Transport aus dem verschlossenen Güterwagen geholt, erwartete uns eine zweiwöchige Quarantäne in der dortigen, von Russen besetzten Kaserne. Ausgehungert, jedoch von sowjetischen Militärärzten gründlich gegen die damals grassierenden Infektionskrankheiten (Typhus, Cholera, Diphtherie) geimpft, verfrachtete man uns auf dem offenen Lastauto zum Bahnhof in Goldberg. Dort nahmen uns Pferdefuhrwerke auf, die aus den umliegenden Ortschaften geschickt waren, um uns in das vor Ort requirierte Notquartier zu bringen.

Wir landeten in Augzin, dem wohl kleinsten Bauerndorf zwischen Goldberg und Lübz, Kreis Parchim. In einem kaum 16 m2 großen Raum fanden wir mit drei weiteren Familien, insgesamt 12 Personen, davon 5 Kinder, eine gemeinsame Bleibe. Jede der 4 Familien baute sich in der ihr zugefallenen Ecke des Raumes aus Steinen und Brettern einen Schlafplatz mit Strohauflage. Neben der Eingangstür stand ein Kanonenöfchen. Für Tisch oder Stuhl war kein Platz. Weil der Hunger keine Ruhe gab, suchten wir alle unverzüglich nach Arbeit und Brot. Nun war das Dörflein aber von Kriegsflüchtlingen aus den deutschen Ostgebieten bereits weit überbelegt, sodaß wir Anfang Oktober 1946, kurz vor dem Wintereinbruch, zu spät kamen, um noch einen Arbeitsplatz oder auch nur etwas Eßbares, eine auf dem Acker liegengebliebene Kartoffel oder Getreideähre, finden zu können.

Dennoch gelang es meiner Mutter, nachdem der Vater als Pferdeknecht bei einem der vier Großbauern des Ortes untergekommen war, auch mich, der ich durch die tschechische „Knechtschaft“ bereits hinreichend qualifiziert war, in eine Hofarbeitersteile zu bringen, für einen „Teller Suppe“ immerhin. Das Gehöft, in dem Ich antreten sollte, lag mit seinem alten Pferdestall direkt vor unserer Haustüre. Als ich frühmorgens hinaustrat, sahen mir die beiden Pferde erwartungsvoll entgegen. Über Nacht war die Stirnmauer des Pferdestalls eingestürzt. Sie hatte wohl den Stößen der hungrigen Gäule bei dem Versuch, das letzte Heu aus der Raufe zu zupfen, nicht standhalten können. Was tun? Um größerem Schaden vorzubeugen, bedurfte es einer raschen Reparatur. Nun hatte der Bauer gerade erfahren, daß die auf dem Militärflugplatz Parchim nach größeren Gebäudesprengungen zuhauf angefallenen Ziegelsteine unentgeltlich abzuholen waren. Er organisierte sofort einen Trecker mit Anhänger und fuhr mit mir in aller Frühe zum Flugplatz. Gegen Mittag ging es mit beladener Fuhre heimwärts. Und nun geschah das Unerwartete. Mitten in Parchim bog der Bauer von der Hauptstraße ab und hielt vor dem Rathaus, um mit mir eine Stärkung einzunehmen. Ich dankte für seine Einladung und begab mich, während er das Mittagsbrot einnahm, auf die Suche nach der Oberschule.

Seit dem kriegsbedingten Ende meines Unterrichts im Januar 1945 war die Fortsetzung der Schule das von mir heiß ersehnte Ziel. Ich hungerte seit bald zwei Jahren ungemein nach weiterer Schulbildung. Denn anders als viele meiner Mitschüler, die der Penne stets ablehnend gegenüberstanden, erlebte ich den Unterricht nachgerade als Abenteuer, das zu immer neuen Entdeckungen im Lernen und Wissen führte. und jeder versäumte Tag erschien mir als ein unwiederbringlicher Verlust. Der dargebotene Stoff flog mir mühelos zu. Ich konnte nie genug davon bekommen.

Ecke Blutstr und Schuhmarkt ca 1900

Parchim, Ecke Blutstr und Schuhmarkt (ca. 1900)

Vom Marktplatz bog ich ‑zufällig‑ in die Blutstraße ein und schon nach wenigen Schritten stand ich vor der Oberschule, dem früheren Parchimer Lyzeum. Verschwitzt und eingestaubt, wie ich von der Ziegelfuhre gestiegen war, trat ich ein und klopfte im Erdgeschoß vor dem Treppenaufgang an die Tür des Schulleiters. Ich wurde vorgelassen. Am Schreibtisch saß ein mittelgroßer Mann mit schneeweißem, nahe der Mitte gescheiteltem Haar, das nach den Seiten hin in lockeren Wellen lag und eine hohe gerade Stirn freigab. Das angenehm symmetrische Gesicht mit gerader klassischer Nase über dem grauweißen Oberlippenbart ließ an Mund und Augen bei überwiegend ernstem Gesamtausdruck einen freundlich warmen Zug erkennen. „Ernst Moritz Arndt“, sagte er, mir die Hand gebend, seinen Namen, nachdem ich mich vorgestellt und für meine unziemliche Form entschuldigt hatte. Mit wenigen Fragen zu meinem Anliegen klärte er die Vorgeschichte und stellte die Aufnahme in die Schule in Aussicht, allerdings bei Bestehen der Aufnahmeprüfung.

Beschwingt rannte ich zum Ziegelwagen zurück, setzte mich glücklicher denn je wieder auf den Anhänger und fuhr, mit freilich bald aufkommenden Bedenken meiner doch erheblichen Wissenslücken wegen dem entgegen, was mir bevorstand. Äußerst besorgt, aber voller Gottvertrauen ließen die Eltern mich mit einem von ihnen ausgerüsteten kleinen Rucksack über Lübz nach Parchim ziehen. Um 14 Uhr begann die Prüfung. Einen Aufsatz über „meinen Schulweg“ zu schreiben, fiel mir nicht leicht, hatte ich doch die deutsche Sprache als Knecht in der Tschechei, wenn nicht verlernt, so doch erheblich vernachlässigen müssen. Dennoch, es klappte. Weniger glatt verlief die Mathematikprüfung. Auszurechnen war die Zeit, die zum Füllen eines Gefäßes erforderlich war, wenn der bei vorgegebenem Röhrendurchmesser eintretende Füllungprozeß nun durch zwei Rohre mit verändertem Durchmesser erfolgt. An sich eine Aufgabe, die ich spielend hatte lösen können, die mir, nach langer Übungspause, aber nicht recht von der Hand ging. Um die Übung abzukürzen, sagte ich dem Lehrer, einem Baltischen Baron; mein durch Kopfrechnen annähernd richtig ermitteltes Ergebnis. „Nun gut“, antwortete er, „rechnen kannst Du nicht, aber dumm bist Du auch nicht.“ Ich hatte bestanden und durfte zur Schule, gleich am nächsten Tag.

Als ich mich bei hereinbrechender Abenddämmerung vom Schulleiter, dem zukünftigen Klassenlehrer, den wir dann die nächsten vier Jahre behalten und liebevoll „EMA“ nennen werden bis ans Ende der Tage, verabschiedet hatte und zur Türe ging, fragte er mich, wo ich denn über Nacht bleiben werde. Unbekümmert antwortete ich: „Auf einer Bank im Wartesaal des Bahnhofs“. Mit ungläubigem Staunen im Gesicht rief er mich zurück, griff zum Telefon und hörte nicht früher auf zu suchen, zu fragen und zu sprechen als bis er über den Leiter der Volkssolidarität, Herrn Steinbeiß, eine Unterkunft mit Bett und Verpflegung bei Familie Menzel für mich gefunden hatte.

Der erste Schultag begann mit der folgenreichen Frage an Biggi: „Können Sie mir bitte Ihr Französischheft leihen?“. Eine einzigartige Freundschaft und Zuneigung entstand. Und sie wird, ebenso wie die KamerGefadschaft mit allen überaus hilfsbereiten Mitschülern, ihre Namen gereichen mir zur Ehre und Freude, über fünf Jahrzehnte, ungeachtet der deutschen Teilung und Trennung, fortbestehen ohne Ende. Was die Schulzeit 1946 bis 1950 für die von EMA als Klassenlehrer zusammengeführte und begleitete Klassengemeinschaft bedeutet, lebt in uneingeschränkter Dankbarkeit fort. Der an menschlicher Verbundenheit und Zuneigung angehäufte Reichtum der Schüler unserer Klasse offenbart sich immer wieder in der frohen Rückbesinnung anläßlich unserer Klassentreffen. Die bei aller materiellen Not in der damaligen Zeit unbekümmerte Heiterkeit der Klasse hatte Bestand und überbrückte manch eine übermütige wie auch politisch belastende Phase. Sie verging mit der Verhaftung, Verschleppung und der Flucht vieler Schüler und kehrte erst Jahrzehnte später wieder zurück. Davon soll der folgende Bericht aus persönlicher Erfahrung Zeugnis geben.

Die Parchimer Jahre gehören zu den ereignisreichsten meines Lebens. Dafür danke ich meinen Lehrern und Mitschülern, jedem auf besondere Weise. Über das gemeinsam Erlebte zu schreiben, ist hier nicht der Ort. Für die Klassengemeinschaft aber wäre es eine großartige Herausforderung, zugleich eine verlockende Aufgabe. Auf die Schilderung der „Harzreise mit EMA“ von Biggi sei hingewiesen. Wieviele Berichte, Erzählungen, Anekdoten, ließen sich über die Schule, die Lehrer, die Stadt und über uns Damalige zusammentragen! Ich beschränke mich hier auf das abrupte Ende meiner Parchimer Jahre.

Die Verhaftung

Am 23. Februar 1950, dem 33. Jahrestag der Roten Armee, wurde ich gegen 16:30 Uhr im Foyer des Stadttheaters von Parchim verhaftet. Im Theatersaal feierte man zu dieser Stunde die Gründung der Sowjetarmee 1917 und ihre Geschichte. Zur Teilnahme hinbefohlen war auch die Parchimer Schülerschaft. Ich aber hatte an diesem Nachmittag die reguläre Geigenstunde nicht versäumen wollen und gleich nach der Schule die Geigenlehrerin aufgesucht in der Annahme, nach dem Unterricht, verspätet zwar, aber noch zeitgerecht, das obligate „Gesichtsbad“ nehmen zu können.

Die Geigenlehrerin, eine ältliche, auf ein paar Nebeneinkünfte angewiesene einstige Virtuosin, rügte mich übelgelaunt wegen „mangelhaften Übens“ und ließ mich die Etüde fortwährend wiederholen. So verzögerte sich mein Aufbruch über Gebühr. Unterwegs quälte mich ihre Kritik umsomehr, als sie berechtigt war, hatte ich im Internat, in dem ich wohnte, doch kaum Gelegenheit, auf der alten, freilich preiswert erworbenen Geige hinreichend zu üben. Ob im Waschraum eingeschlossen oder versteckt auf dem Dachboden, sobald ich die Geige stimmte und wie rücksichtsvoll und einfühlsam den ersten Bogenstrich auch  ansetzte, sofort ertönte irgendwoher ein Schrei, ein Fluch, ein Gejohle, das mich zur vorzeitigen Aufgabe zwang. Einen anderen Übungsort konnte ich nicht auftreiben.

Gleichwohl versuchte ich am Geigenspiel festzuhalten. Dabei dachte ich oft an Helmut, der in seiner stadtrandnahen Bude dem Cellospiel uneingeschränkt nachgehen und große Erfolge erzielen konnte.

Bei der Ankunft im Theater war meine Verspätung größer als ich befürchtet hatte. Vom Saale her war Händeklatschen und Sesselklappern zu hören, das Ende der Veranstaltung. Noch bevor die Saaltüren aufgingen, traten im Foyer zwei Männer ‑tiefsitzende Hüte, lange Mäntel, die Hände in den Taschen‑ auf mich zu und forderten mich in seltsam energischem Flüsterton auf, sie unauffällig zu begleiten. Dabei nahmen sie mich in ihre Mitte und führten mich mit der Bemerkung, kein Aufsehen zu erregen, ab ins Internat.

Die Abenddämmerung war in Dunkelheit übergegangen, auf den spärlich beleuchteten Straßen und in den Gärten lagen aufgehäufte Schneereste, die in den sonnigen Mitfebruartagen zusammengeschmolzen waren. Während meine Beine gefühllos einer Bewegungsautomatik gehorchten, kroch vom Unterleib her abwechselnd ein Leere- und Wärmegefühl zum Magen herauf. Dabei jagten mir immer neue, oft wahnwitzige Fluchtgedanken durch den Kopf, freilich ohne konkrete Chance, sie ausführen zu können.

Das Internat lag am Rande der Stadt im Kasernenviertel und war in einem kurz zuvor von den Sowjets geräumten Wohnblock untergebracht. Dem Hause gegenüber standen hinter einem hohen olivgrün gestrichenen Bretterzaun die Kasernenbauten der Besatzungsmacht. Stadteinwärts grenzte das Internatsgebäude an den Garten des umzäunten Nachbarhauses.

Vor dem Internat bezog der eine meiner Begleiter unauffällig Wachposition, der andere folgte mir in das Treppenhaus und sicherte die Eingangstür zum Schlaf- und Wohnraum, der im Erdgeschoß lag und den ich mit 3 Schulkameraden teilte. Aufgefordert, warme Kleidung anzulegen, da ich gleich abgeholt würde -wohin, schoß es mir durch den Kopf, nach Bautzen, Sibirien, wohin sonst? -, warf ich die Geige und Schulmappe auf den Schlafplatz im unteren Doppelbett, das neben dem Tisch unter dem zur Straßenseite hin gerichteten Fenster stand, und nahm, äußerlich unbewegt, innerlich von Furien gepeitscht, meine Winterjacke aus dem Schrank, dazu die mit Autogummi besohlten Schnürschuhe.

Mit diesen Kloben hatte ich drei Jahre und vier Monate lang jedes zweite oder dritte Wochenende samstags nach Schulschluß um 13 Uhr den 30 km weiten Weg zu den Eltern in Augzin angetreten. Zwischen 18 und 19 Uhr traf ich nach 5 bis 6-stündiger Wanderschaft ein, um am folgenden Sonntagnachmittag, einigermaßen ausgeruht und gesättigt, wieder aufzubrechen in die Stadt, in die Schule. Im Rucksack trug ich das von den Eltern für mich aufgesparte Zubrot, ein paar Äpfel oder Kartoffeln und einen Kanten schwarzes Brot. So oft es ging, begleiteten mich die Eltern gut 12 km weit über Herzberg hinaus und weiter auf der Straße, dann übernahm ich den Rucksack vom Vater, der es sich nicht hat nehmen lassen, ihn so weit zu tragen, und ich zog nach kurzem, gleichwohl herzlichem Abschied mit der zwar lästigen Bürde, aber einer nahezu lebensnotwendigen eisernen Ration die nächsten 20 km zu Fuß über die kerzengrade endlose Straße mit ihren kilometerweit sanft ansteigenden oder abfallenden Strecken nach Parchim.

Einmal in all den Jahren, die ich dort unterwegs war, ließ mich ein Bauer, der seine Pferde vor dem Wagen zum Überholen antreiben wollte, aufsitzen und auf dem Bock neben sich Platz nehmen. Bei dem Versuch, meiner Dankbarkeit auf mecklenburgische Art genügend Ausdruck zu verleihen, wies ich nach hinreichend langer Pause mit einer ausholenden Armbewegung auf das weite Land hin und rief: „Herrliche Felder haben Sie hier. Und der Weizen steht in diesem Jahr besonders gut“. Darauf erfolgte seinerseits keinerlei Reaktion. Nach etwa einer Viertelstunde gegenseitigen Schweigens nebeneinander hob der Bauer die Hand und wies mit der Peitsche auf die andere Seite der Straße, an der ein riesiges Weizenfeld wogte; “Hier auch”, sagte er und beendete damit die Unterhaltung während der wohl einstündigen Wagenfahrt, die ich trotz einer gewissen Beklommenheit sehr genoß. Es soll dahingestellt bleiben, ob das Schweigen allein der landesüblichen Verschlossenheit eines mecklenburgischen Bauern zuzuschreiben war oder, wenigstens teilweise, andere Gründe hatte. Neben dem Mißtrauen gegenüber Ortsfremden, den Flüchtlingen zumal, könnte die Abneigung gegen den Unkundigen eine Rolle gespielt haben. Einer wie ich, der den Getreidestand auf dem Acker lobte, nachdem dieser vom Staat enteignet und der Kollektivierung unterworfen worden war, konnte nicht ernst genommen werden.

Mit den festgeschnürten Schuhen und der zugeknöpften Winterjacke würde es, wie ich meinte, bei meinem Bewacher im Internat keinen Verdacht erregen, wenn ich mit seiner Zustimmung noch einmal den Waschraum aufsuchte. Das zum Garten hin gerichtete Toilettenfenster schien mir eine letzte Fluchtchance bieten zu können. So war dem Mitschüler Egon “Conny” Schwarz, wie es hieß, nach seiner Verhaftung im Parchimer Rathaus die Flucht durch die Toilette geglückt. Er hatte fliehen und nach West-Berlin entkommen können. Vom Fenster aus sah ich Männer, halbkreisförmig verteilt im Garten. Das Haus ist umstellt, der Fluchtweg abgeschnitten. Warum bist du hier und nicht geflohen, werfe ich mir vor.

„Gehen Sie nach Berlin! Wir haben Angst um Sie“. Diese Worte hatte mir bereits Anfang Januar 1950 unser Lateinlehrer, Herr Creutzfeld, am Ende der Lateinstunde, die er Samstags als letzte von 12 bis 13 Uhr gab, ins Ohr geflüstert, auf seine besondere Weise. Herr Creutzfeld, von uns respektvoll “Crux” genannt, war ein ebenso gefürchteter wie geschätzter Pauker mit hoher fliehender Stirn bei verhältnismäßig kleinem, spärlich behaartem Kopf und auffallend dicker Brille, die er, der langaufgeschossene, schlanke Mann, in leicht nach vorn abgeknickter Kreuzbeinsteilung vor sich herzutragen schien. Ungeachtet seiner seltsam gekrümmten Körperhaltung war Crux ein begnadeter und seiner eleganten Haltung wegen auch sehr bewunderter Schlittschuhläufer auf dem Parchimer See, an dessen Ufer er auch wohnte. Crux konnte bei allem Jähzorn, der ihn mitunter zu gefürchteten Ausbrüchen fortriß, ein gewinnendes Wesen spielen lassen und bei uns Schülern eine herzerwärmende Lernfreude entfachen. Gewaltig war seine für die wenigen Freiwilligen abgehaltene Lateinstunde, in der Lob und Tadel eng beieinander lagen und befruchtend wirkten.

Unvergessen ist darüber hinaus sein Unterricht in Geschichte, dem Fach, das er als Studienrat wie jedes andere souverän beherrschte. Nun sah der Stoffplan damals nichts weiter vor als die „große sozialistische Oktoberrevolution“. Crux begann also die Stunde mit dem Hinweis auf den Stoffplan, den er pflichtgemäß erfüllen werde. Dann schilderte er kurz den Petersburger Aufstand der Matrosen, die Erstürmung des Winterpalais nach dem berühmten Schuß vom Kreuzer „Aurora“, dem Zeichen zum Aufbruch für die Revolutionäre, weil diese keine oder keine zuverlässig gehenden Uhren besaßen und anders den Sturmangriff gar nicht pünktlich hätten gemeinsam durchführen können.

Die Etablierung der Bolschewiki und die Art ihrer Machtausübung erklärte Crux als typisches und nachgerade gesetzmäßiges Verhalten im Zuge einer historischen Revolution. Die inneren Probleme des Staates werden alsbald nach außen verlagert, und zwar in einen Krieg mit dem Ziel, andere Länder zu unterwerfen und zu erobern. Dies entspräche, so Crux, im Übrigen auch dem Ablauf der Französischen Revolution von 1789. Das eigentliche Ziel der Revolution müsse, sobald das Blutbad mit dem Königs- oder Zarenopfer vorüber ist, in den Hintergrund treten und der Machtsicherung des neuen Regimes dienen. Erst der militärische Erfolg festigte das neue Regime. An die Spitze traten dort Napoleon Bonaparte, hier Lenin und Stalin, der eine als Imperator, der andere als Generalsekretär, beide mit uneingeschränkter, wenngleich gesetzlich kaschierter Machtfülle. Was Crux damit erreichte, war nicht nur eine famose Ausweitung der Geschichte auf die klassischen, damals verbotenen Stoffgebiete, es war allem auch eine wohltuende Relativierung der uns alle bedrückenden Stalin’schen Despotie, eines Terrorsystems, dessen grausame Blutherrschaft so viele von uns aus der Blutstraße, Lehrer wie Schüler, noch zu spüren bekommen sollten.

Von den fünf Schülern der 12. Klasse, die neben 10 Schülerinnen 1949/50 zum Abitur antraten, waren drei im Oktober 1949, bei Gründung der sog. DDR, verschwunden und in die Hände der sowjetischen Geheimpolizei geraten, die bekannt ist als GPU oder NKWD. Crux befürchtete zu Recht auch meine Verhaftung, der ich bis Januar 1950 entgangen war[1]. Mich hatte im September 1949 eine Paratyphus-Erkrankung in stationäre Krankenhausbehandlung gebracht und bis Dezember, nach der Genesung in Quarantäne, dort festgehalten, abgeschirmt von der Außenwelt.

Im Städtischen Krankenhaus Parchim am Wokersee, das gegenüber dem damals als Russen-Lazarett genutzten Friedrich-Franz-Gymnasium lag, war ich nicht nur dem Tod begegnet, ich hatte auch tagelang mit ihm auf des Messers Schneide gekämpft. Im Sterbezimmer, es hatte 4 Betten, sah ich tagtäglich und recht teilnahmslos die neben mir liegenden Kranken innerhalb weniger Stunden dahinsterben. Patienten, die am Nachmittag oder gegen Abend hochfieberhaft eintrafen und deren typhus-typischen Roseolen an der Bauchhaut von den Aufnahme-Ärzten mit einem stummen, ernsten Nicken bestätigt wurden, waren am frühen Morgen schon in der Leichenkammer. Innerhalb weniger Stunden erzitterte das frisch bezogene Bett erneut vom Schüttelfrost des nächsten Moribunden.

Mich rettete, davon bin ich überzeugt, im Kampf zwischen Leben und Tod die Nächstenliebe in Gestalt zweier mir unbekannter Frauen. Die erste, eine dunkel haarige, faszinierend schöne Pastorentochter aus einer nahegelegenen Kirchengemeinde, hatte, allen Warnungen und Widerständen zum Trotz, als ungemein fürsorgliche Schwester unter Lebensgefahr die Pflege ihres an Typhus schwer erkrankten Bruders übernommen. Selbst vor dem Abitur stehend, wich sie Tag und Nacht nicht von der Seite ihres 22-jährigen Kranken, eines von mir ob seiner Schönheit und Klugheit bewunderten und seiner Betreuung wegen fast beneideten Jünglings, der im 4. Semester Theologie studierte. War er, vom Fieber geschüttelt, eingeschlafen und hatte die treusorgende Schwester alle ihre Pflichten erfüllt, kam auch ich in den Genuß ihrer Zuwendung. Im Nachbarbett, Fuß an Fuß mit ihrem Bruder, versorgte sie mich mit. Mehr als die physische Fürsorge bewirkte ihr freundliches Lächeln und das Gespräch, zu dem sie sich je länger desto lieber bereitfand. Zuerst, vor meinem Bette sitzend im Flüsterton die halbe Nacht, dann, im Zuge der fortschreitenden Rekonvaleszenz, auf Spaziergängen im Garten der Krankenanstalt, am Seeufer entlang. Ihr Bruder schien auf dem Wege der Besserung und konnte sie solange entbehren. Da zerbrach alles Glück mit einem Schlage. Gänzlich unerwartet starb ihr Bruder, den man auf dem Wege der Gesundung wähnte. Mein Abschied von seiner Schwester war kurz und erfüllt von unsäglichem Schmerz. Ich sah sie nicht wieder.

Die zweite Frau, der ich mein Überleben verdanke, war eine Krankenschwester, die sich meiner ebenso fürsorglich wie rabiat annahm. Da meine ständige Übelkeit, begleitet von Brechreiz, zu Inappetenz und zunehmender Hinfälligkeit führte, der Anblick jeder dargebotenen Speise meine Abneigung verstärkte, geriet ich in eine lebensgefährliche Krise. Die Schwester hatte dies bemerkt und ergriff die rettende Initiative. Mit ungemein drastischen Worten erklärte, nein, drohte sie mir: „Wenn du nicht aufißt, was ich dir bringe, mußt du sterben! Aus und vorbei!“. Mit größter Qual begann ich, den kleinsten Bissen aufzunehmen. Da ich ihn bei mir behielt, vergrößerte sich die Portion bald derart, daß ich die von der Schwester zunehmend morgens, mittags und abends aufgetürmten Weißbrotschnitten, bestrichen mit saftig-süßer Konfitüre und bald auch mit duftender Wurst- und Fleischauflage bestückt, mühelos verzehren konnte. Die Tagesrationen, die meine immer freundlicher lächelnde Schwester brachte, führten alsbald wieder zu meinem Normalgewicht oder gar ein wenig darüber, allerdings nur für kurze Zeit.

Während meiner Krankenhauszeit galt meine größte Sorge dem bevorstehenden Abitur. Um den versäumten Lehrstoff nachholen zu können, bat ich, bereits auf dem Wege der Genesung, jedoch in Quarantäne gesperrt, meine Klassenkameraden um Unterstützung. Und sie überbrachten mir in einzigartiger Hilfsbereitschaft beinahe täglich ihre Aufzeichnungen in Deutsch und Mathematik wie auch in den Sprachen. So konnte ich, wenn auch verbotenerweise und durch die Zaunabsperrung hindurch, am Unterricht und am sonstigen Geschehen in der Schule, in Stadt und Land, teilhaben.

Ich erhielt, von Biggi, Rosi und Ingrid zumal, die Nachricht von der Gründung der DDR und von der bald darauf, am 10. Oktober 1949, erfolgten Verhaftung meiner engsten Freunde, den Klassenkameraden Clemens und Helmut. Wie anders geworden war die Klasse und die Schule, als ich Mitte Dezember dorthin zurückkehrte. Über der zusammengeschrumpften Schülerschaft lag eine lähmende Stille. Wo vorher Heiterkeit und Lachen war, herrschte beklommenes Schweigen und Flüstern vor. Überall war die Sorge, die Frage nach den Verschleppten, zu spüren. Die Weihnachtsferien bei den Eltern gewährten mir noch eine Weile scheinbare Ruhe.

Aber gleich zu Beginn der Schule, Anfang Januar, traf mich in der Blutstraße die Warnung von Crux wie der Schuß vor den Bug. Im Lateinunterricht pflegte Crux, mit übergeschlagenen Beinen auf der Tischkante vor uns vier oder fünf Schülern sitzend, das Lehrbuch aufgeschlagen in der Hand, den Oberkörper in einer für ihn typischen Art immer wieder weit nach vorne zu wiegen und sich dann gerade aufzurichten. So beugte er am Ende der Stunde, als die Klingel ratterte, seinen Kopf weit nach vorn, um mir, der ich als erster in der Bankreihe vor ihm saß, unbemerkt von den anderen Schülern, die Warnung ins rechte Ohr zu flüstern: „Wir haben Angst um Sie. Gehen Sie nach Berlin!“. Er verabschiedete sich wie immer und ging. In mir heulte die Alarmsirene auf. Und sie kam nicht mehr zur Ruhe. Tag und Nacht rang ich um eine Entscheidung. Fortgehen ohne Abitur oder bleiben und hoffen, daß der Schulabschluß als Zugang zum Studium gelingt. Welches Risiko das Bleiben bedeutete, konnte ich den laufenden Verhaftungen entnehmen. Dennoch hielt mich ein zögerliches Hoffen zurück, das Egmont-Motiv? Von EMA, dem ich mich anvertraute, ohne freilich Crux zu erwähnen, erwartete ich väterlichen Rat. Oft schon hatte er mir in seelischer Not beigestanden wie keiner sonst.

Die letzte Entscheidung konnte oder wollte er mir in seiner Betroffenheit nicht abnehmen. Seine vorsichtig formulierte Fluchtempfehlung, die er wohl deutlicher aussprach, als ich sie verstehen wollte, bot mir, wenn auch schwach begründet, doch noch Hoffnung genug, der Verfolgung zu entgehen. Bei aller Gutgläubigkeit hätte ich wissen müssen, daß ich bereits im Netz der Staatssicherheit steckte. Erst jetzt, in der Falle gefangen, wurde mir meine politische Blindheit, ja Dummheit, bewußt.

Der Sprung aus dem Toilettenfenster, die letzte Chance zu entkommen, schlägt fehl. Ich muß aufgeben, denn vom Fenster aus sehe ich im Halbkreis verteilte Männer im Garten. Das Haus ist umstellt. Vom Internat, dessen Belegschaft noch nicht zurückgekehrt ist von der Veranstaltung, führen die beiden Schächer, bald verstärkt durch die Hausbewacher, mich zum Polizeirevier am Moltkeplatz, das ich kenne. Auf einer Bank neben der Tür zu einem hinteren Raum muß ich zwei Stunden warten. Dabei erfahre ich, wie das System des Überwachungsstaates funktioniert. Die Tür neben mir ist die meiste Zeit einen Spalt breit offen. Ich höre mit, was im Raum von den dort Versammelten gesprochen wird. Es ist die Stunde der Spitzel. Ein Gesprächsleiter mit energischer Stimme beherrscht das Feld. Während Teilnehmer gehen und andere kommen, berichten die Anwesenden über ihre Erkenntnisse. Einer sagt: „In der Wallstraße, Haus und Nummer bekannt, wohnt ein Ehepaar mit zwei Kindern. Der Mann arbeitet bei der Stadt. Er verläßt morgens pünktlich um 7 Uhr 30 das Haus und kommt abends ohne Umwege gegen 6 Uhr zurück. Die Frau geht einkaufen und versorgt den Haushalt. Beide Kinder gehen zur Schule. Keine besonderen Vorkommnisse“. „Gut“, antwortet der Leiter, „weiter observieren“. „Vor dem Haus Nummer drei“, beginnt der Nächste, „parkt seit gestern Nachmittag eine schwarze Limousine“. „Kennzeichen?“, unterbricht ihn der Leiter. „Bekannt und überprüft“, kommt die Antwort. „Wem gehört das Fahrzeug? Was macht der Fahrer?“, will der Leiter wissen. Da der Berichterstatter nicht hinreichend informiert ist, wird er mit mildem Tadel auf den dringenden Aufklärungsbedarf hingewiesen. So geht es Straße für Straße und Haus für Haus weiter. Die Menschen werden aufgelistet, ihre Eigenheiten und Charaktere analysiert, die persönliche Integrität und Zuverlässigkeit hinterfragt. Das Spitzelnetz ist feinmaschig und liegt über nahezu jedem Kopf der Stadt. Im Vorübergehen sehen mir einige der Kundschafter aufmerksam ins Gesicht, andere schleichen gesenkten Blickes vorbei. Ein Rest von Schamgefühl oder Tarnung? Mit mir im Raum sitzt, jenseits der hölzernen Absperrung, jedoch schweigend, ohne mich aus dem Auge zu lassen, der diensthabende Polizist. Hin und wieder ein Telefonat. Warum läßt er mich zuhören? Ist er selbst Zeuge der Gespräche, in der Annahme gar, daß ich dazu gehöre?

Gegen 10 Uhr abends erscheinen zwei uniformierte, sowjetische Geheimdienstleute mit grünen Kragenaufschlägen. Sie führen mich nach kurzem BIick zum nickenden Polizisten auf die Straße, wo ein schwarzer Pkw mit laufendem Motor auf mich wartet, und nehmen mich auf dem Rücksitz in die Mitte. Der Wagen fährt durch die Stadt und hinaus auf die Straße in Richtung Schwerin.

Damals sowjetisches Untersuchungsgefängnis, heute Dokumentationszentrum Schwerin, Obotritenring 106

Damals sowjetisches Untersuchungsgefängnis von der Gestapo übernommen und dann an die Stasi abgegeben. Heute Dokumentationszentrum Schwerin, Obotritenring 106.

Gefangenschaft

Einsame Fahrt durch dunkle Alleen, dann matte Straßenbeleuchtung. Der Wagen passiert eine bewachte Schranke und hält in einem Hof. der von hohen Mauern umgeben ist. Schließgeräusche, Türenöffnen, drei viermal nacheinander. Gedämpfte Befehle und laute Schritte auf Steinfußboden. Sie bringen mich zu einer Seitenkammer. Neben der Oberbekleidung, den Hosenträgern und Schnürsenkeln verschwindet mein kleines Portemonnaie und der sonstige armselige Tascheninhalt in einem Beutel, der fortgetragen wird in ein entferntes Regal. Zu den anbehaltenen Hosen und Socken erhalte ich ein Oberhemd. Mit der Hand die rutschende Hose festhaltend, werde ich in ein Arztzimmer geführt. Die spärliche Einrichtung besteht aus einer Liege, aus einem schmalen Wandschrank, in dem einige Instrumente und Arzneipackungen liegen, und einem weißlackierten Schreibtisch. Dahinter sitzt ein wohlgenährter, mittelgroßer Mann, der den weißen Kittel leger über die Uniform geworfen hat. Nackt, wie befohlen, trete ich vor den Arzt. Aus dem breiten Mund grinst mir eine Reihe goldener Front- und Seitenzähe entgegen. Unter der fliehenden haarlosen Stirn geben hervortretende Orbital- und Backenknochen zwei wäßrig blaue Augen frei, die an der breiten fleischigen Nase vorbei verächtlich meine Gestalt mustern. Schräg hinter dem Arzt neben·einer Tür steht eine junge uniformierte Ärztin oder Assistentin, die dezent und taktvoll im Hintergrund bleibt. Schimpfwörter, mit denen der Arzt mich empfängt, lassen mein Schamgefühl in Ekel und Abscheu übergehen. Kurze Fragen zur Krankheitsvorgeschichte, die er der Untersuchung gleichgültig vorausschickt, ergeben wenig, abgesehen vom Hinweis auf meine Typhuserkrankung. Die körperliche Untersuchung ist begleitet von vulgären und zynischen Anwürfen, die jede menschliche Würde in den Staub treten. Nachdem Mund, Augen und Ohren inspiziert, Herz und Lungen abgehört sind, wendet er sich mit weiteren Flüchen und unüberbietbaren Sottisen dem Ano-Genitalbereich zu. Niedrige Anzüglichkeit, die mich und meine Freunde verletzen soll, trifft auch wohl die reglos dastehende junge Frau, und gerade sie vielleicht mit Absicht.

Was ich anhören muß, verletzt nicht nur jeden Anstand, es beleidigt auch die Würde der Frau. Erst vor wenigen Tagen, Mitte Februar, habe ich, verliebt, verspielt, im Vorfrühling den Kuß suchend und empfangend, am See, am Wald entlang, weibliche Zuneigung ausgekostet. Ein Arzt für den ich mich als Kollege bis heute schäme, trampelt nieder, was uns in der 11. Klasse vom Schularzt umsichtig und einfühlsam zuteil geworden ist: Die Aufklärung über Freundschaft, Partnerschaft und Sexualität. Danach habe ich einen „Aufklärungsversuch“ meiner Mutter still belächelt. Bei der Gartenarbeit im Kartoffelbeet, den Blick zu Boden gerichtet und die Hacke immer fester in den Boden stampfend, begann sie von den Leiden der Frau zu sprechen, von Schwangerschaft und was dazu gehört. Als ich sie unterbrach, atmete sie erleichtert auf und sah mir lächelnd in die Augen.

Der ordinäre Fleischkloß hier will das Gefäß der Menschen- und Frauenwürde in mir zerbrechen. Er stellt die Ehrfurcht vor Gott und Mensch in Frage. EHRFURCHT, das von EMA in Goldlettern an die dunkelgrüne Stirnwand der Aula geschriebene Wort, geht mir nahe. Viele Male mußte ich es EMA nachsprechen, um die richtige Aussprache einzuüben. In Böhmen wird, wie in Bayern und Österreich, das „ch“, in Wörtern wie Furcht oder Milch, hart im Kehlkopf hinten „geröchelt“, wogegen es im Hochdeutschen leicht zur Zungenspitze hin wandert. Das kehlige „ch“ wird in slawischen Sprachen sogar zum „k“. So heißt Milch auf Russisch „moloko“, auf Tschechisch „mleko“. Das alles gehört für mich zum Begriff Ehrfurcht. Nachhaltiger als der Angriff auf die Würde des Menschen zerstört keine physische Folter, wie ich sie bereits erfahren habe, die Persönlichkeit. Der Heranwachsende flieht davor nicht selten in extremen Menschenhaß. In wenigen Stunden wurde mir zweierlei lebensnotwendige Erfahrung zuteil: 1. das Spitzelsystem der Sowjetdiktatur und 2. die Menschenverachtung einer Weltmacht-Ideologie. Sie reduziert die Menschlichkeit auf ein Knochengerüst, das grinst.

Einzelhaft

Die rutschende Hose wieder mit der Hand festhaltend, werde ich durch Türen und Gänge, dann die Treppe hinauf geführt in das 2. Stockwerk. Metallgitter vereiteln auf Schritt und Tritt den Sprung in die Tiefe! Eingeschlossen in der Zelle, sehe ich das Guckloch in der Tür noch eine Weile offen. Die schmale Pritsche an der Wand lädt ein zur Ruhe. Aber der Schlaf bleibt aus. Von der Decke fällt das kalte Licht der Glühlampe direkt ins Gesicht. Zur Wand gedreht, die graue Wolldecke über dem Kopf, vernehme ich von der Nachbarzelle her ein leises Klopfen. Unregelmäßige Zahlenfolgen enden mit einem schnellen Doppelschlag und werden nach kurzer Pause fortgesetzt. Ich zähle die Schläge mit. Wenn ich dafür das Alphabet einsetze, erkenne ich Wortfetzen. Bei Berücksichtigung der russischen Buchstaben wird B zugleich W, C zu S, das 0 auch zu V. Vokale entfallen. Die verkürzten Wörter ergeben, im Telegrammstil gehalten, einen Satz. Ich verstehe die Botschaft und antworte nach diesem Prinzip. Meine Nachbarn sind, wie ich erfahre, Oberschüler aus anderen Städten, inhaftiert angeblich wegen „Diversion, Spionage oder Hetze gegen den Staat“. Ich melde mich als Schüler aus Parchim und höre, daß mehrere Parchimer seit längerem im Hause sind. Ihre Namen wisse man nicht. Den Kenntnissen der russischen Sprache nach zu schließen, ist das Gefängnis angefüllt mit Oberschülern und Studenten. Ihre Klopfzeichen fern und nah sind umlauert von größter Gefahr. Wer vom Türspäher ertappt wird, muß mit brutalen Schlägen und Tritten an Ort und Stelle oder mit Karzer rechnen. Zurück bleibt dann nun jeweils ein Klumpen Fleisch. Dies ereignet sich mehrmals in der Nacht. Das Haus ist hellhörig. Und keiner, der die Schreie gehört hat, wird sie je vergessen.

Um 6 Uhr früh ist Wecken. Befehle, Schließgeräusche und Schritte von Zelle zu Zelle kommen näher. Die Tür springt auf und der Schlüsselgewaltige zeigt auf den Eimer in der Türecke, die Toilette. Mit dem Eimer, dem darübergelegten Lappen und einem Stück Sandseife gehe ich befehlsgemäß in den jenseits meines Trakts gelegenen Waschraum. Dort wird der Eimer entleert und gereinigt und, nach meiner kurzen Hand- und Gesichtswäsche, halbvoll mit Wasser gefüllt, in die Zelle zurückgebracht, um den gefliesten Fußboden naß aufzuwischen. Der Lappen ist zugleich Handtuch. Während meiner Morgentoilette begegne ich keinem Mitgefangenen.

Das Frühstück besteht aus einer Kelle dünnen schwarzen Kaffee und einem Schlag Kascha, etwa drei Eßlöffel Graupen, dazu ein Stück grobes Schwarzbrot. Seit dem letzten Bissen gestern Vormittag hungrig, verschlinge ich die Ration in wenigen Sekunden. Das verbeulte Blechgeschirr geht zurück durch die aufklappbare Türluke.

Der erste Tag meiner Einzelhaft beginnt mit der Ungewißheit, was mir nun bevorsteht. Die Minute dehnt sich zur Stunde. Wer sich langweilt, kann sich Zerstreuung suchen. Dem Häftling im sowjetischen Gewahrsam bleibt nur die Zelle, 13 Fuß lang und 7 breit. Neben dem Eimer mit Tuch und Seife gehört die Bettstelle mit dünner Matratze und grauer Wolldecke zum Inventar. Erlaubt ist von 6 Uhr früh bis 23 Uhr in der Nacht nur Gehen, Stehen oder Sitzen auf der Bettkante, nicht Liegen oder gar Schlafen. Abgesehen vom Türspion gibt es keine Beziehung zur Umwelt, keine Ablenkung für Körper und Geist. Lesestoff und Schreibmaterial fehlt ebenso wie irgendeine Gelegenheit zu spielen. Die Entfernung von der Tür-zur Fensterwand beträgt vier Schritte. Gehe ich sie 500 mal auf und ab, erreiche ich etwa 2 km, meinen täglichen Schulweg. Dem Panther gleich, der fortwährend an den Gitterstäben entlangstreift, spüre ich den Stumpfsinn heraufziehen. Ihm entgegenzuwirken, suche ich nach Lied- und Gedicht-Texten, verliere dabei oft nach der zweiten oder vierten Strophe den Faden. Wenn auch die zwanzigste oder fünfzigste Wiederholung nicht weiterführt, macht sich der bekannte Textteil selbständig und läuft automatisch im Kopfe weiter wie die ausgeleierte Grammophonplatte nach einem Sprung. Die Zeit kriecht wie eine Schnecke und ich werde getrieben von rasender Unruhe. Warum? So oder so ähnlich beginnt wahrscheinlich der Wahnsinn. Hunger stellt sich ein als zwar quälende, aber physisch wahrnehmbare Ablenkung. Zu Mittag gibt es einen Teller Kohlsuppe mit einigen Kartoffelstückchen und Fettwürfeln, schweinernes Bauchfleisch. Es schmeckt zwar, stillt aber den Hunger nicht. Bis zum Abendbrot sind es noch 6 Stunden. Die Abendmahlzeit gleicht dem Frühstück und wird ebenso wie die Mittagssuppe in nächster Zeit keine nennenswerte Änderung erfahren.

Am nächsten Tag die Entdeckung des Fensters: 1 m breit und 60 cm hoch, außen vergittert mit schweren Eisenstäben. Oben reicht es bis an die Decke, die untere Kante liegt bei gut zwei Metern und hat ein nach innen steiles Gefälle, das den Fingern und Händen keinen Halt bietet, um den Körper hochzuziehen. Selbst wenn dies gelänge, wäre der Ausblick verstellt. Vor dem Fenster hängt als Sichtblende ein nach außen vorspringender Holzverschlag. Ich sehe einen Streifen vom Himmel, blau oder wolkenverhangen, hinein ragen die Spitzen von zwei Pappeln. Sie übersteigen die Blende um etwa 25cm. Obwohl am Ort fest verwurzelt, bringen sie mir beredt Kunde von draußen. Die spärlichen Zweige der Wipfel, noch ohne Blatt, verkünden mir die Windbewegung und mit der Wanderung der feinen Schatten, vergleichbar einer Sonnenuhr, auch den Gang der Stunden. An sonnenhellen Tagen fungieren, sie als ein zuverlässiger Chronometer.

Ich beginne, die Wandfläche abzusuchen und entdecke seitlich unter dem Fenster eine Kratzspur. Mit dem Fingernagel sind Zeichen und Buchstaben eingegraben, jedoch unfertig und nicht deutbar. Dann untersuche ich den Fußboden. Im Terrazzo-Belag zeigen sich unterschiedlich breite Spalten. Das schwarz-weiße Mosaik läßt Phantasie-Muster entstehen.

Bei einer Fußbodenfläche von 7,5 Quadratmetern und einer geschätzten Höhe von 3 m beträgt der Rauminhalt etwa 22m. Nach Tolstoi braucht der Mensch am Ende kaum zwei. Zufrieden mit der kleinen Abwechslung, springt die Denkmaschine wieder an und stellt die Frage: Durchhalten oder Aufgeben? Sein oder Nichtsein? Suizidgedanken verlocken zum Eintauchen in die Ruhe. Symptome der Depression. Dem Schmetterling gleich, der im Glaskäfig mit den Flügeln an die Wände stößt, abstürzt und wieder aufsteigt, so erscheinen mir die gedanklichen Flugversuche.

Selbstvorwürfe peinigen und fordern Antwort. Warum hast du die Flucht nach Berlin versäumt? Warum bist du hier geblieben? Immer dieses Warum! Und es wird dir noch oft begegnen. Warum warst du eingesperrt, werden selbst deine Freunde dich nach dem Grund deiner Haft fragen. Und du weißt, daß sie die Antwort nicht begreifen werden, solange sie nicht selbst betroffen waren und nicht einmal ahnen, wie das sowjetische Machtsystem arbeitet. Der normal denkende Mensch ist geneigt, im Häftling von vornherein einen Schuldigen, zumindest einen Verdächtigen, zu vermuten. Das Sowjetsystem kennt nicht Schuld oder Unschuld, sondern nur das Prinzip, wer nicht für mich ist, ist gegen mich, und der darf eliminiert werden, der eigenen Sicherheit wegen.

Immer klarer sehe ich meine· „Verfehlungen“ und meine nachgerade unverzeihliche Naivität, in scheinbar trivialen Vorgängen die systemimmanente Gefahr nicht erkannt zu haben. Mit Egmont-hafter Vertrauensseligkeit hatte ich, ein dümmlicher Springinsfeld, das Risiko des Alltags in den Strukturen der Besatzungsmacht unterschätzt, die dahinter lauernde Menschenverachtung noch überhaupt nicht begriffen. Dafür sprechen die folgenden Ereignisse.

  1. In der Aula hatte ein Mitschüler aus der Parallelklasse, Karl-Heinz Fischer, einst neben mir Platz genommen und ein Gespräch angezettelt, das auf die Frage zulief, ob ich denn nicht endlich der FDJ beitreten wolle. Die Mitgliedschaft wäre nicht nur Verpflichtung für den Aufbau des neuen Staates, sondern auch Voraussetzung für das Abitur. Immerhin würde ich von der „Volkssolidarität“ unterstützt, ich lebte also auf Kosten des Staates. Gemeinsam mit Clemens und Helmut hatte ich in der Tat den FDJ-Beitritt verweigert und deswegen, wie meine Freunde, den Ausschluß vom aktiven Sportunterricht in der Schule hinnehmen müssen. Wir ertrugen dies, zumal das Turnen in Form von Ballspielen nur als Gebolze und Gehüpfe unserer Mädchen ablief, mit Anstand und Würde am Rande des kleinen, staubigen Spielplatzes. Meist vertieft in eine weltbewegende Diskussion, spendeten wir ab und zu belustigt Beifall.Folgenlos blieb unsere Verweigerung aber nicht. Karl-Heinz Fischer gegenüber stellte ich fest, daß ich von 1943 bis 45 Jungzugführer[2] war und nach anschließenden bitteren Erfahrungen geschworen habe, nie wieder im Leben einer Partei beizutreten. “Das wirst du bereuen”, sagte er und entfernte sich vom Platz neben mir. Gehörte er schon zum Überwachungsapparat?
  2. Im Frühjahr 1949 gab EMA seiner Klasse eine Hausarbeit auf. Der Deutschaufsatz, für den mehrere Wochen vorgesehen waren, sollte mit einem freien Thema sozusagen als „Gesellenstück“ den persönlichen Stil und Ausdruck festigen und darüber hinaus Gelegenheit bieten, die Abiturnote zu Verbessern. Ich beschloß, die mecklenburgische Landschaft zu beschreiben, deren Schönheit ich auf Spaziergängen in der Umgebung von Parchim entdeckt zu haben meinte. Die Geographie des Flachlandes meiner heimatlichen Gebirgswelt, dem Ostsudetenland, gegenüberzustellen, bewegte mich umso mehr, als der in Parchim geborene preußische Feldmarschall Helmuth Graf von Moltke (1800 ‑ 1891) auch der Held in der Schlacht von Königgrätz 1866 war und das Schlachtwelt unweit meines Heimatortes lag. Allerhand Stoff.Aber ich wollte mehr. Da EMA des öfteren Beiträge gelobt hatte, die Naturbeobachtungen ‑Singvögel, Niederschlagsmengen, Sterne‑ betrafen und mit Zahlenangaben untermauert waren, hoffte ich, meine Schilderung mit einer Passage über die Schleuse im Eide-EIbe-Kanal, deren Betrieb ich einmal bewundert hatte, aufwerten zu können. Ich ging hinaus zum Schleusenwärter, grüßte freundlich und erbat Auskunft über die Art und Anzahl der ‑pro Tag, Woche oder Monat‑ vorbeikommenden Wasserfahrzeuge, über Herkunft und Zielort, Ladung und Fahrtdauer. Schon nach den ersten Worten geriet der Mann, völlig unbegründet, wie mir schien, derart in Rage, daß ich, um seiner brachialen Drohung zu entgehen, schleunigst davonlief. Verwundert und enttäuscht zwar über sein Verhalten, nahm ich familiäre oder berufliche Probleme als Ursache an und fand seine Reaktion insoweit verständlich. An das, was so nahe lag und was der Mann mir unterstellte, an Spionage, dachte ich keinen Augenblick.
  3. Da die Zeit fortgeschritten war, brauchte ich dringend ein neues Thema. Weiterhin dem Reiz der Statistik verfallen, kam ich auf eine ziemlich hirnrissige Idee. Dazu bedarf es einer kurzen Erklärung. Sie betrifft einige von weit mehr „Episoden mit EMA“. Ich denke hier an den von ihm geschaffenen und geleiteten Klassenchor und speziell an die morgendlichen Lesungen. Er betritt den Klassenraum, legt die Ledertasche auf den Tisch und entnimmt ihr ein Buch. Wir etwa 14 Schüler stehen vor den hufeisenförmig angeordneten Tischen. EMA entfaltet sein Taschentuch, schneuzt ausgiebig hinein, legt das Tuch säuberlich zusammen, wischt noch ein paarmal damit seitwärts über den gepflegten Oberlippenbart, verstaut das Tuch tief in seiner Hosentasche. In der Klasse ist es mucksmäuschenstill. Er schlägt das vorbereitete Buch auf und liest, ruhig, angenehm, fesselnd, einen Text. Das Repertoire ist groß. Lyrik, Epik, von Goethe, Schiller, Mörike, Puschkin, Morgenstern und vielen anderen. Wiederholt er einen Text, so sprechen wir ihn nach der zweiten oder dritten Lesung auswendig mit. Viele Texte, nicht nur aus dem West-Östlichen Diwan, sind im Gedächtnis geblieben, bis heute. Und immer noch steigen ganz überraschend Sätze, Verse, Strophen, aus dem von EMA an gelegten Erinnerungsspeicher herauf, passend zur gegebenen Situation. Der Vorrat ist unerschöpflich und oft sehr hilfreich. Gleichermaßen wirksam war sein pädagogischer Einfluß. Um 8 Uhr morgens stand er vor der offenen Klassentüre. Nach dem Klingelzeichen trat er ein. Dabei ließ er uns, Clemens, Helmut und mir, die wir noch schnell im Korridor eine Frage diskutiert hatten, den Vortritt in die Klasse. Als er dies zum 4. oder 5. Mal zugelassen hatte, betrat er einmal einen Schritt vor uns den Klassenraum und schrieb uns namentlich als verspätet ins Klassenbuch, was zur Folge hatte, daß die Verspätung dann auch im Zeugnis stand. Nie wieder kamen wir zu spät.EMA, der mich in die Schule aufgenommen und über die „Volkssolidarität“ untergebracht hatte, erst bei Familie Menzel, dann bei Frau May, schließlich im Internat, ließ mich, in Verbindung mit einem Ansuchen an die Unterhaltsstelle, meinen Lebenslauf schreiben. Bei der Durchsicht tippte er mit dem Finger energisch auf ein Wort und sagte: „Das Ganze noch einmal!“. Warum? Mein Vater, dessen Beruf ich mit Landwirt angab, mußte als Bauer ausgewiesen sein. Weil in meiner Heimat der Landwirt als Kleinbauer galt, bevorzugte ich diesen Begriff, nicht ahnend, daß im „Arbeiter- und Bauernstaat“ der Landwirt zu den „Junkern und Schlotbaronen“ gezählt wurde. Er rettete meinen Antrag mit Erfolg.
    Eine weniger glückliche Folge hatte für mich die Morgenlesung von EMA, die Goethe als 18-jährigen Studenten in Leipzig betraf und mich in die schwerste Krise stürzte. Goethe schlief eine Zeit lang mit einem Dolch neben sich und hegte den Gedanken, was geschehen würde, wenn er die aufgesetzte Messerspitze tiefer in die Brust stoßen würde. Diese Vorstellung berührte mich ‑wohl in der analogen Entwicklungsphase‑ so sehr, daß ich mich dem Komplex „Liebe und Tod“, wie er in „Romeo und Julia“ oder „Hera und Leander“ gestaltet ist, bodenlos hingeben mußte. Suizid-nahe Ich-Entfaltung. In einem abendlichen Gespräch brachte EMA mich über die Anthroposophie dem wirklichen Leben wieder näher.

    Er gab mir ein Werk von Rudolf Steiner mit, das den Übergang vom Leben zum Tod kasuistisch darlegte und Gedichte von Goethe dazu tiefsinnig interpretierte. Ich verschlang das Buch und staunte, welche Wirkung doch das Gespräch mit einem erfahrenen und reifen Mann auf einen glücklich-unglücklich verliebten 18-jährigen Jüngling haben kann, der, mit 14 zum Tode verurteilt, vor dem Erschießungspeloton stand und seine Schein-Hinrichtung miterleben mußte. Noch an demselben Tage wies der Knabe die Absicht der Eltern, gemeinsam in den Tod zu gehen, zurück mit der Bemerkung: „Gerade erst davon gekommen, bin ich zum Sterben zu jung und zu neugierig auf das, was uns das Leben noch bringen wird“. Das war am 19. Juni 1945. Und 2 Tage später, am Aloisia-Tag, wurden wir mit der Einwohnerschaft meines Heimatortes von Haus und Hof vertrieben. Nicht die Last der Biographie quält mich. Ich leide am Romeo-und-Julia-Motiv, an Ohnmacht und Ausweglosigkeit. Sind es die Prodrome meiner Typhuserkrankung ?

  4. Meine absurde Idee bei der Suche nach dem nächsten Aufsatzthema betraf den Suizid. Zugegeben, ein verrückter Gedanke. Ich ging zum Polizeirevier auf dem Moltkeplatz, von dem aus ich dann abgeholt und nach Schwerin verbracht werde, und trug dem Reviervorsteher mein Anliegen vor. Für den Aufsatz wollte ich in Erfahrung bringen, wieviele Selbstmordfälle im letzten Jahr zu verzeichnen waren und auf welche Art die Selbsttötung erfolgte. Meine Statistik sollte darüber hinaus die Geschlechts- und Altersverteilung der Toten ausweisen und, soweit bekannt, das jeweilige Motiv. Der Beamte starrte mich voller Entsetzen an. Und stupende Versteinerung ergriff sein Gesicht, ehe er mit unsanften Worten ausdrückte, was einem Hinauswurf aus dem Revier entsprach. Damit hatte ich nicht nur mein zweites Aufsatzthema verloren, sondern auch meine „politische Unschuld“. Daß die damals besonders hohe Suizidrate der Geheimhaltung unterworfen war, hatte ich nicht recht bedacht. Aber das Überwachungsnetz war nun wohl über mir ausgelegt.

Wieder hatte ich wertvolle Zeit verloren. Der Abgabetermin war bedrohlich nahe. Und ich hatte noch nicht einmal das Thema gefunden. Verzweifelt setzte ich mich an den Tisch und schrieb über Nacht in einem Zuge nieder, was ich im Mai 1945 beim Einmarsch der Russen und der nachfolgenden Blutherrschaft der Tschechen bis zur Vertreibung in meiner Ortschaft erlebt hatte. Allerdings übertrug ich die Erlebnisse, die mir auf der Seele brannten, in die Zeit der Hussitenkriege. Den Titel „Gesundbrunnen“ wählte ich, noch ohne Kenntnis zu haben von der Existenz der gleichnamigen Berliner Station[3]. Mein „Gesundbrunnen“ war die von einer Steinmauer eingefaßte Waldquelle zu Hause, die immerzu frisch sprudelte und uns stets einen kühlen Trunk darbot. Mein emotional verfaßter, zwanzig Seiten langer Aufsatz wurde von EMA mit „gut“ bewertet. Gesehen habe ich ihn nie wieder. Um mir den „Rausschmiß“ aus der Schule im Falle einer Überprüfung, wenn nicht gar den „Genickbruch[4]“ , zu ersparen, hatte EMA meinen Beitrag verschwinden lassen. Wieder erwies er sich als mein Beschützer.

In Parchim war damals, dem Gerücht zufolge, ein Sowjetoffizier erschossen worden. Die Tatumstände blieben im Dunkeln, der Vorfall war aber, wie später zugänglich gewordene Protokolle belegen, bereits Gegenstand intensiver Stasi-Ermittlungen. Nicht mehr festzustellen ist, ob ein Ereignis, das damals von Mund zu Mund ging, tatsächlich stattfand. Die Geschichte an sich erschien aufregend und gefährlich. Und sie erweist sich bis heute zumindest als Heldendichtung gut konzipiert. Ein Mitschüler, der Sohn eines Försters, und sein Freund gingen nachts mit dem Jagdgewehr, was unter Höchststrafe verboten war, in den Wald auf die Pirsch. Beim Zielen auf ein Wildschwein wurde der Försterssohn von einem Russenoffizier überrascht, der ebenfalls wilderte. Als der Russe auf den Zielenden anlegte, wurde er vom Freund des Förstersohnes entdeckt und in Notwehr erschossen. Den beiden Freunden sei es weniger um die Aufbesserung ihrer Fleischversorgung gegangen, vielmehr habe sie das Abenteuer gereizt, armen, alten Stadtbewohnern im Sinne Robin Hoods eine zusätzliche Fleischportion zukommen zu lassen. Die Fleischration fand sich, von unbekannter Hand abgelegt, morgens auf der Türschwelle.

Mochten Wunsch und Wirklichkeit auch weit auseinanderklaffen, derartige Berichte fanden, erhärtet durch besondere Vorkommnisse, Einlaß in jedes Ohr. Jeder Ansatz von Widerstand hatte meine Sympathie. Aktiver Widerstandskämpfer war ich nicht. Verhaßt war die überall um sich greifende Bespitzelung. So wurden Personen, die als Zuträger, Agenten oder Verräter, erkannt wurden, über den RIAS[5] namentlich benannt und somit enttarnt. Zu den Geschmähten gehörte in Parchim Alexander Stoll, ein zwar hochintelligenter, aber auch zwielichtiger Mann, der als Schriftsteller schon einen Namen hatte und später mit Werken über den mecklenburgischen Troja-Ausgräber Heinrich Schliemann noch hervortreten sollte. Stoll hatte in vielerlei Funktionen und Ämtern enttäuscht oder versagt. Auch stand er im Verdacht der Knabenliebe. Vor ihm wurde nachdrücklich gewarnt.

Noch ehe ich von alledem Kenntnis hatte, trat Stoll eines Nachmittags in der Blutstraße vor dem Uhrmachergeschäft Hase auf mich zu und begann ein anspruchsvolles und geistreiches Gespräch. Davon fasziniert, spazierte ich mit ihm aus der Stadt hinaus durch ein von uns Schülern gern aufgesuchtes Wäldchen. Stoll sprach über die Schriftstellerei und seine Tätigkeit in der Deutschen Botschaft in Rom, seinen Italien-Aufenthalt und die dort entstandene Novelle. Sie schildert einen römischen Kaiser in seinem Ferienpalast auf Capri, seinem Lieblingsknaben vertrauend und von diesem beschützt, bis die Neider und Verräter den aus niederem Stande aufgestiegenen Getreuen des Imperators ermorden. Davon übergab Stoll mir ein mitgebrachtes Exemplar. Über Personennamen oder politische Themen wurde bei alledem nicht gesprochen. Wohl erinnere ich mich an den Begriff „Pubertätsromantik“, den Stoll im Zusammenhang mit „jugendlichem Aktionismus“ aussprach, eher im Sinne einer Warnung. Ob er mich gleichwohl, unerfahren und naiv genug wie ich war, „abzuschöpfen“ versuchte, vermag ich rückblickend nicht zu beurteilen.

Dieser Begegnung wegen geriet ich ‑auch nach der Wende noch‑ offenbar in den Verdacht, eines Mitläufers oder gar Mittäters, was mich, eingedenk meiner Biographie und der Haltlosigkeit insgesamt, nachhaltig schmerzt. Doch erübrigt sich dazu aus meiner Sicht jedes weitere Wort. „Wirbelwind und trockenen Kot, laß sie wehn und treiben“, sagt Goethe. Von aktivem Widerstand in Parchim hatte ich zwar gehört. Auch von Verbindungen bestimmter Personen mit der Westberliner „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ von Rainer Hildebrandt. Mir imponierte, was über die aufrechte Haltung der Parchimer Familie Wiese, der Brüder Friedrich-Franz, „Fidi“, und Ottfried sowie deren Schwester Alexandra, „Lexi“ und ihrer standfesten Mutter gesagt wurde, ohne sie persönlich gekannt oder gesprochen zu haben.

Erst dem nach der Wende, 1990, im Hinsdorff Verlag, Rostock, erschienenen Buch „Mein Vaterland ist die Freiheit. Das Schicksal des Studenten Arno Esch“, herausgegeben und gestaltet von Horst Höpke und Friedrich-Franz Wiese, konnte ich tiefere Erkenntnisse entnehmen. Über die Verhaftung der Familienmitglieder Wiese, die nahezu zeitgleich mit der meinen erfolgte, über die Haft in Schwerin, die Todesurteile, die teils vollstreckt wurden wie an Arno Esch, teils zu jahrelanger Verschleppung in das russische GULAG führten. Ein erschütterndes und ergreifendes Zeugnis über die Jahre der Haft ist in dem Gedichtband „…und schreie in den Wind… Gedichte aus Hoheneck” von Alexandra Dust-Wiese, Anita Tykve Verlag, Böblingen, 1987, niedergelegt. Diese Schriften enthalten durchweg abscheuliche Stellungnahmen über Alexander Stoll. Des Verrats an der Familie bezichtigt, wird er verantwortlich gemacht für ihr Schicksal. Dabei dürfen allerdings Vorgänge, wie sie nunmehr zugänglichen Stasi-Akten aus damaliger Zeit zu entnehmen sind, nicht außer Acht bleiben. Mit größtem Interesse konnte ich die mir zugeleiteten Teile jener Vernehmungsakten einsehen und erschüttert die Vorgänge rekapitulieren, die meine Mitschüler Konrad „Conny“ Schwarz und Gerhard „Gerd“ Duncker sowie deren Angehörige betreffen. Einem Mosaik vergleichbar, fügt sich ‑in Erinnerung‑ Stein für Stein zu einem Bild, das, ergänzt durch mein jetziges Wissen, ein weithin überschaubares Panorama ergibt. Verknüpft mit diesen Ereignissen sehe ich meine Verhaftung und den späteren Lebensweg.

Zu einer Schlüsselfigur für mich wurde Werner Götte, ein Parchimer Oberschüler, eine oder zwei Klassen über mir. Er reiste in jener dramatischen Zeit wohl öfter mit der Bahn nach Westberlin und überbrachte Nachrichten für den RIAS. Auf der Rückfahrt wurde er eines Sonnabendvormittags bei Nauen aus dem Zug heraus von sowjetischer Geheimpolizei verhaftet und in das nahegelegene Dienstgebäude gebracht. In einem Aufenthaltsraum ließen die Männer ihn warten mit der Aufforderung, er möge auf dem Klavier dort nach Belieben spielen. Sie entfernten sich, wohl um den zuständigen Offizier aus dem Wochenende herbeizurufen. Götte erkannte und nutzte blitzschnell seine Chance. Er ging durch die Tür und schritt unbehelligt durch die menschenleeren Räume den Gang entlang und die Treppe hinunter zum Ausgang. Selbstsicher genug, grüßte er in fast perfektem Russisch den Wachposten vor der Tür, eilte zum Bahnhof und entkam mit dem eben abfahrenden Zug den schon heranstürmenden Verfolgern nach Westberlin, wo er dann blieb und RIAS-Mitarbeiter wurde. In Berlin lernte ich ihn, dem ich nie zuvor begegnet war, dessen Namen ich aber oft gehört hatte, kennen. Aber noch bin ich Häftling in Schwerin.

Seit Tagen der stupenden Eintönigkeit der Einzelzelle überlassen, jeder geistigen Anregung beraubt, nur den Schritten, Schließgeräuschen und Schreien lauschend, die ausbrechen, wenn irgendwo eine körperliche Strafaktion erfolgt, lebe ich in tierischer Enge den kargen, immer gleichartig zubereiteten Mahlzeiten entgegen, dankbar noch gerade für die mitgelieferte kleine Abwechslung. Von Bedeutung ist das Tempo und die Richtung der Schritte draußen. Gehen sie zum Verhör, zu einer Sonderbehandlung, in die Freiheit oder in sibirische Lagerhaft? Da diese Gedanken letztlich kein Ziel finden, stürzen sie ab ins Leere. Dann wieder Schlüsselrasseln, Türenschlagen, dumpfe Schlaggeräusche, von einer Faust oder vom Tritt einer Stiefelspitze, gefolgt vom wilden, erbärmlichen Schreien der zerschmetterten menschlichen Kreatur, deren letzter, sich aufbäumender Lebenswille übergeht in ein Wimmern und nachfolgendes Schweigen. Dann wieder gedämpfte Stille. Zynisch erinnert die uns eingetrichterte Sowjet-Hymne mit dem Satz: „Kein anderes Land kenne ich, wo der Mensch so frei atmet“ an die hier wohl unüberbietbare Menschenverachtung. Und diese Horde erklärt die von ihr angestrebte Weltherrschaft als „historische Wahrheit“ und Stalin als ihr gottähnliches Idol. Und er wird, selbst vom „wrotten west“, dem verfaulten Westen, anerkannt, geehrt, gefeiert und hofiert. Deutschland liegt am Boden. Der Deutsche ist Freiwild. Hat die jetzige Tötungsmaschinerie ein vergleichbares Vorbild? Gibt es einen Unterschied zwischen dem einen und dem anderen Völkermord? Die Berliner Blockade von 1948 bis 1949 hat zwar die Konfrontation Ost gegen West verdeutlicht, bewirkt hat sie lediglich eine Verfestigung der Teilung Berlins.

Welche Zukunft, der du mit 14 doch erwartungsvoll entgegenstrebtest, erwartet dich nun, außer dem elenden bißchen Leben, das du noch hast? Wielange wohl und wofür? Verzweiflung drückt jeden Denkansatz nieder. Wer wie ich als Kind schon den Freiheitsdrang in der Natur, das  Jagen durch Felder und Wälder, ausgekostet hat, begreift die Einzelzelle als Sarg, in dem er lebendig begraben ist. An den Felsen geschmiedet zu sein, die Leber offen dem Geier zum Fraße darbietend, von Schmerzen gepeinigt, wäre erträglicher für ihn. Bei dem Versuch, die Minute zu zählen oder die Stunde, fällt mir ein, was Goethe einem, dem die Zeit zu schnell verging, entgegnete: „Ihrer 60 hat die Stunde, über tausend hat ein Tag. Freundchen, werde dir die Kunde, was man alles leisten mag“. Kein Schamgefühl ob meiner Ungeduld, auch nicht wegen meines sinnlosen Auf- und Abgehens. Oder des Beobachtens der Sonnenschatten im Pappelgezweig vor dem Fenster.

Unbedacht fällt mir ein Wollfaden ins Auge, der seitwärts aus dem grauen Wollappen über dem Toiletteneimer hängt und mich anfleht, zieh mich heraus und spiele mit mir. Ich sitze auf der Bettkante und lasse auf dem Knie Figuren aus dem Faden entstehen, ein Dreieck, ein Quadrat, ein Herz. Einen kurzen Augenblick genieße ich den Zauber im Formenwandel. Da wird die Zellentür aufgerissen, herein stürzt ein uniformiertes Knochengerüst, schlägt fluchend auf mich ein, mit der Faust, und tritt mich, auf dem Boden liegend, mit der Stiefelspitze wohin er will. Dabei schreiend, belehrt er mich, daß ich soeben wertvolles Volkseigentum zerstört hätte. Vom Schmerz betäubt, stelle ich, wieder auf der Bettkante sitzend, fest, daß die Zähne, Augen, Nase und Knochen heil geblieben sind. Was ich nun erlebe, ist mir unbegreiflich. Während überall am Körper brennende Schwellungen hervortreten, zieht ein fast dankerfülltes Wohlbefinden durch mein Gemüt. Auf welche Weise auch immer, du wurdest berührt von einem Wesen. Von einem Menschen? Wie verkrafte ich den Gegensatz zwischen dem abgrundtiefen Haß gegen das mörderische System und meiner unbewußt aufsteigenden Dankbarkeit für eine brutale Folterung?

Noch einmal, Tage später, erlebe ich dieses schizophrene Phänomen. Anlaß ist diesmal der Versuch, mit dem Fingernagel eine Figur in das handtellergroße Stück Sandseife zu kratzen, das meiner Reinigung dienen soll. Die Opfer, heißt es im Falle einer Geiselnahme, nähern oder verbünden sich mit den Tätern, selbst dann, wenn letztere Mörder sind[6]. Eine mir immer noch unerklärliche Psychologie-Variante.

Die Verpflegung ändert sich wochenlang nicht, wohl aber meine Eßgewohnheit. Im Suppenwasser schwimmen Tag  für Tag einige Kohlblätter und Kartoffelstücke, dazwischen kommen, beim Umrühren mit dem Löffel, drei vier Würfel schweinernes  Bauchfleisch, fette Speckabfälle, zum Vorschein. Ich lerne, langsam und bedächtig zu essen und mit dem halbvollen Löffel den Essensgenuß zu verlängern und zu steigern[7]. Zuletzt verspeise ich ein Kohlblättchen mit dem aufgesparten weißen Speckwürfelchen, wohl wissend, daß der seit Stunden knurrend angewachsene Hunger nicht nennenswert befriedigt werden kann. Nach und nach wird das Hungergefühl erträglicher, der Ration angepaßter, einer Erfahrung entsprechend, die Solschenizin dann in seinem Buch: „Ein Tag aus dem Leben des Iwan Denisowitsch“ aus dem GULAG beschreiben wird. Am Abend wieder Kaffeewasser, Kascha, Kastenbrot. Und Warten auf die Liegezeit und auf neue Klopfzeichen. Sie kommen. Wird aber einer ertappt, folgt brutale Mißhandlung. Einer wird abgeführt. Nach einer kurzen Stille erfahre ich, daß ihm der Karzer droht. Ein stundenlanges Stehen in einem niedrigen Kellerraum, der hüfthoch mit kaltem Wasser gefüllt und nur vorgebeugt zu begehen ist. Trotz dieser Tortur nehmen die Klopfkontakte Nacht für Nacht kein Ende.

Am vierten Tag der erste Hofgang. Knapp zehn Minuten lang mutterseelenallein zwischen hohen Mauern ein paarmal im Kreis herum. Zum Hofgang gehe ich dann ein oder zweimal die Woche. Ein Sichtkontakt ist nicht möglich. Die Bretterabsperrungen vor den Zellenfenstern verstellen die Sicht. Einmal die Woche werde ich in den Duschraum geführt, allein, ohne Begegnung mit einem Mithäftling. Und doch werde ich von Clemens ein-zweimal gesehen. Durch seinen zerbrochenen Türspion mit von innen verschiebbarer Klappe beobachtet er mich einmal auf dem Gang zur Toilette, das zweite Mal beim Hofgang. Von seinen Zellengenossen hochgehoben, erlaubt ihm ein Spalt in der hölzernen Fensterblende den Blick auf den Hof. Ein Bewacher, den ich im Treppenhaus frage, wie lange es hier noch dauern wird, antwortet auf Russisch: „Wer weiß? Vielleicht 15 oder 25 Jährchen. Was macht das schon. Du bist jung. Auch Genosse Stalin war lange in Sibirien. Und er ist heute unser Generalissimus“. Kein Trost, sondern ein Keulenschlag. Und doch der Wirklichkeit näher als ich ahnte.

Clemens und Helmut wurden um diese Zeit zu jahrelanger Zwangsarbeit verurteilt. Im Sommer 1950 kamen sie von Schwerin im Zug zum Bahnhof Zoo in Berlin und von dort in einem als „Brot“-Auto getarntem Fahrzeug zur sowjetischen Administratur in Berlin-Karlshorst. Mit einem als D-Zug erscheinenden Gefangenentransport, die Waggons enthielten seitlich vor den zugezogenen Fenstern mehrstöckig angeordnete Liegenetze für die „Passagiere“, ging es nach Moskau. Der Reiseproviant bestand aus einem getrockneten Salzhering zur Minimierung der Nierenfunktion. Nach einem Aufenthalt in der Lubljanka, dem berüchtigten Moskauer Gefängnis, wo die Namen von vorausgegangenen Parchimern zu lesen waren, wurde Clemens nach Workuta, in das  Todeslager am Polarkreis, und Helmut an den Baikalsee verbracht. Den herrlichen Baikal wird Herr Bednarz[8] im Deutschen Fernsehen später besingen, ohne das Leid der dort Gewesenen und Gestorbenen zu erwähnen. Das Schicksal meiner beiden Freunde und ihre Biographie ist weit umfassender als ich sie anzudeuten vermag. Ihre Niederschrift steht noch aus.

Welches Los steht mir bevor? „Geduld, du ungeheures Wort, wer dich versteht, wer dich begreift…“, der von EMA vorgetragene Text, wird mir zu einer fixen Idee. Mein erstes Verhör beginnt nach 8 oder zehn Tagen gegen zwei Uhr in der Nacht. Ich sitze im grellen Scheinwerferlicht an einem langen und breiten Tisch dem vernehmenden Offizier gegenüber, neben mir die Dolmetscherin in Uniform. Die von ihr übersetzten Fragen und rückübersetzten Antworten betreffen meine Umgebung, die Schule, das Internat. Noch zwei oder dreimal wiederholt sich das nächtliche Verhör. Eine gewisse Erwartung auf Abwechslung im grauen Alltagseinerlei stellt sich ein. Es geht um Fragen, die um Schule, Lehrer, Stundenplan und Lerninhalte kreisen.

Dann kommt die Nacht, in der Goethe mir das Leben rettet. Im Vernehmungsraum reicht die Dolmetscherin mir eine Art Bonbonniere zu, aus der ich, freundlich dazu aufgefordert, nacheinander drei Pralinen mit Kakaogeschmack und reichlich Zucker entnehme und, hungrig genug, auch gleich verschlinge. Der Offizier hat mir gegenüber Platz genommen und gibt der Dolmetscherin einen dezenten Wink, worauf sie die Schachtel verschließt und beiseite stellt. Minuten später, das Verhör hat gerade begonnen, gerate ich in einen fast übersinnlichen Zustand. Aus einem Nebenraum oder dem Korridor, den es eigentlich nicht gibt, vernehme ich vertraute Stimmen, die ich teils meinen Eltern, teils anderen, mir nahestehenden Personen zuordnen kann. Ich höre unmittelbar neben mir Wörter und Sätze. Und ihr ruhiger, heiterer Tonfall weckt die Hoffnung auf baldige Entlassung. Ich bemerke nun aber, daß ich einer Halluzination erliege. Mit den Pralinen hat man mir Drogen eingegeben und mich für die Vernehmung präpariert. Obwohl ich die Fragen des Offiziers dank meiner Russischkenntnisse[9] recht gut verstehe, kommt mir die Übersetzung durch die Dolmetscherin sehr entgegen. Ich gewinne dadurch wertvolle Sekunden zum Überlegen und Formulieren. Das Gespräch kriecht, ohnehin verzögert durch Übersetzungen, umso träger dahin, je öfter es mir gelingt, Nebensächliches, zumal Unterrichtsthemen, etwa Gedanken, über den gerade in der Klasse besprochenen „Faust“, vorzubringen und zu variieren. Am Verhalten des Offiziers erkenne ich, auch in der Dunkelheit, die ihn umgibt, ob er gerade stärker oder eher weniger an der Sache interessiert ist. So zeigen mir bestimmte Reaktionen, eine Veränderung der Köperhaltung, eine angedeutete Handbewegung, der Ton und das Tempo einer Frage, die Ungeduld, mit der sie vorgebracht wird, ob meine Verzögerungs- und Ablenkungsversuche die Toleranzgrenze eben schon erreicht oder beinahe überschritten haben. Seine Zornausbrüche und Drohungen sind furchterregend. Die größte Kunst besteht darin, dümmliche Aufmerksamkeit zu zeigen, das größte Risiko ist, dabei ertappt zu werden.

Bemerkenswerterweise habe ich nicht den Eindruck, daß die Drogenwirkung mein Denkvermögen einschränkt oder verändert. Im Gegenteil, meine Aufmerksamkeit und das Erfassen kritischer Zusammenhänge erreicht, wie ich denke, einen Höhepunkt. Es ist, schätze ich, frühmorgens zwischen zwei und drei Uhr. Daß ich Bekannte oder Freunde irgendwie belastet hätte, schließe ich aus. Wie das System aber letztlich arbeitet, wer kann es ermessen? Schon eine Namensnennung kann, wie die Erfahrung lehrt, zum Todesurteil führen. So oft ich im Verhör nach Personen gefragt werden, die ich nicht oder nicht hinreichend kenne, wehre ich, so bohrend der Vernehmende auf verfährt, die Antwort darauf entschieden ab, was mir, auch bei wiederholten Nachfragen, stets gelingt. Mit einer einzigen Ausnahme. Sie bestätigt im Übrigen, seltsam genug, meine Verhaltensweise. Eine plötzliche Eingebung bestimmt das denkwürdige Verhör. Ich folge bei der direkten Rede meiner Erinnerung.

„Kennen Sie Götte?“, lautet die Frage des Offiziers. Natürlich kenne ich den Namen: Gö-Doppel-t, e, habe den früheren Mitschüler aber nie getroffen oder gesprochen. Seine Berlin-Kontakte sind mir bekannt, nicht aber sein Aufenthalt und jetziger Verbleib. Wie soll ich antworten? Da entdecke ich im Tonfall, mit dem der Offizier den Namen aussprach, blitzartig die Spur einer Chance. Russisch ausgesprochen, klingt „Götte“ wie „Gjöte“. Und augenblicklich wird aus Werner Götte für mich Wolfgang Goethe.

Ich beantworte die Frage mit „Ja“ und merke, daß der Offizier ein wenig näher an den Tisch heranrückt. Wichtiges Thema, denke ich. Paß gut auf! Und schneller als sonst kommt, seitlich zur Dolmetscherin gewendet, der nächste Satz: „Frag ihn, wo Gjöte ist“. Da ich es nicht weiß, könnte meine zutreffende Antwort den Gesprächsfaden abschneiden. Um Zeit zu gewinnen, sage ich: „Das weiß hier doch jeder“. Sein Interesse wächst, er richtet sich auf. Vorsicht, hämmert es in meinem Kopf. „Wo Gjöte sich jetzt aufhält, will ich wissen“, sagt der Offizier mit spürbarer Ungeduld. Die Dolmetscherin übersetzt: „Sie sollen nur sagen, wo Götte wohnt“. Ohne überlagen zu müssen, antworte ich: „In Weimar“. „Wieso in Weimar?“, wiederholt er und fragt ‑nach einer kleinen Pause: „Wo in Weimar? Frag ihn nach der Adresse!“. Jetzt gilt es, mich zu bekennen. „Goethe ist tot. Er ist dort gestorben“. „Warum gestorben?“, ruft er. „Frag ihn: Wann und wie?“. Mit dem naiven Staunen des Oberschülers antworte ich: „Aber das weiß doch jeder. Goethe starb am 23. März 1832 in seinem Haus in Weimar“. Kaum hat die Dolmetscherin den Satz beendet, da haut der Offizier mit den Fäusten auf den Tisch und schreit: „Durak“, verdammter Idiot! Er springt auf und verläßt mit Flüchen und Beschimpfungen den Raum. Für mich war es das letzte nächtliche Verhör.

Wenige Tage später komme ich in eine Zweibettzelle, die ich mit einem Maurer teile. Lange sprechen wir, mißtrauisch jeder gegen jeden, kein Wort miteinander. Voller Argwohn kommen wir endlich überein, das in der Einzelhaft aufgestaute Schweigen zu beenden und miteinander zu reden, aber nur über unverdächtige Dinge. Der Maurer, erfahren im Bau von Fabrikschornsteinen, erzählt mir nun Tag und Nacht von allen möglichen Formen und Materialien der Baukunst. Den Bau des Hauses, des Gewölbes, des Kamins und auch des hohen Schornsteins, schildert er ebenso detailliert wie die verschiedenen Arten der Steine und der Mörtelzubereitungen. Theoretisch erlange ich Gesellenreife. Und im Falle eines Einsatzes auf dem Bau könnte ich die Kenntnisse sofort praktisch nutzen. Ich revanchiere mich mit Berichten aus der Landwirtschaft und der Pferdehaltung, der Feld- und Waldarbeit. Ihm bereitet das Führen der Pferde vor dem Wagen, dem Schlitten und besonders beim Reiten die größte Freude.

Anders als ich ist mein Zellengenosse fest überzeugt, in Kürze nach Hause entlassen zu werden. Gleichwohl stimmt er dem Vorschlag zu, unsere Familien-Anschriften auszutauschen und sie auswendig zu lernen. Im Falle der Entlassung wollen wir gegenseitig Nachricht geben über den Verbleib des anderen. Da es keine Möglichkeit gibt, die Daten zu notieren, bedienen wir uns einer Mnemo-Technik, die ich bei Dr. Richter in einer Vertretungsstunde gelernt hatte. Erst erzählte uns der gescheite, in seiner Art unscheinbare Mann, famos improvisierend, vom Aufbau und der Funktion der Nervenzelle, dem Nervengeflecht mit den Synapsen und die Lokalisation der Hirnzentren, um schließlich auf „Eselsbrücken“ hinzuweisen, die es ermöglichen, Worte, Texte und auch Zahlen im Gedächtnis zu verankern. Um die Merk- und Erinnerungsstützen zu erproben, übten wir uns in dieser Methodik.

Die vierte Nacht bringt die Entscheidung. Gegen 3 Uhr früh wird die Tür geöffnet und sein Name gerufen. Er nimmt seine Sachen und verläßt mit einem lächelnden Abschiedsblick die Zelle. Wieder allein, überlege ich, ob Gefahr besteht, einer Unvorsichtigkeit wegen. Nach einer Stunde wieder Schließgeräusch, mein Name wird aufgerufen. „PoschIi!“, sagt der Wachsoldat und führt mich nicht, wie von mir erwartet, die Treppe hinunter, dem Ausgang entgegen, sondern hinauf, an den oberen Etagen vorbei, in den Dachbodenraum. Unter dem Gebälk stehen, gut 50 m im Quadrat, im Abstand von je drei Metern aufgereiht, hintereinander je 15 Holzbottiche, jeder etwa 1,20 m hoch und wohl ebenso weit im Durchmesser. Es sind Zuber, angefüllt mit eingeweichter Leibwäsche. Mein Bewacher bleibt an der Tür stehen und dreht sich aus Machorkakrümeln und Zeitungspapier eine Zigarette. Mit einer lässigen Armbewegung fährt er über den Dachraum und sagt: „In einem der Fässer ist Dein Hemd. Suche es. Wenn Du es herausfindest, kannst Du nach Hause“.

Prüfung

Erfaßt von einem Hoffnungsrausch, stürze ich mich auf den ersten Bottich, wühle, prüfe und verwerfe die Stücke. Sie gehören mir nicht. Ich renne zum zweiten, dritten, fünften Zuber, suche das Hemd, das ich vor Wochen bei der Einlieferung anhatte, dessen Muster ich aber nicht mehr in Erinnerung habe. Mein Bewacher raucht, an den Türrahmen gelehnt, in aller Ruhe seine Zigarette. Die mir zugedachte Zeit droht, wie ich befürchte, unter den Händen zu zerrinnen, ohne Ergebnis. An mehreren Behältern vorbei stürze ich in die hintere Ecke und stehe dort vor einer weiteren, ebenso langen Reihe von Wäschezubern.

Der Vorhof zur Hölle umgibt mich. Die unlösbare Aufgabe läßt meinen Freiheitsdrang scheitern. Wenn mir der erlösende Griff nicht gelingt, bin ich verloren. „Laß mich, großer Gott, das Hemd finden“, spreche ich als Stoßgebet. Es verhallt unter dem Dachgebälk, bis eine Stimme hörbar wird, die sagt: „Du bist ganz nahe davor. Einmal, zweimal prüfe noch den Stoff, den nächsten aber nimm, wringe ihn aus und zeige ihn dem Bewacher mit der Feststellung: „Das ist mein Hemd“. So geschah es. Der Soldat tritt die auf den Boden geworfene Zigarette aus und weist, ohne einen Blick auf mich oder das Hemd geworfen zu haben, mit dem Kinn auf die Tür.

Auf dem Weg hinunter ins Erdgeschoß plagen mich Skrupel. Was wird geschehen, wenn es nicht mein Hemd ist, das ich bei mir habe. An der Kleiderkammer nimmt mir der Diensttuende das Hemd aus der Hand und wirft es achtlos in den Wäschekorb. Dann holt er den Beutel mit meinen abgelegten Kleidungsstücken und Gegenständen aus dem Fundus, darin liegt auch mein Hemd. War ich mit der Hemdsuche einer „Lügenprobe“ unterworfen, die mich tauglich für das System ausweist? Oder hat der Soldat mich benutzt, um nur eine ruhige Rauchpause einzulegen? Eilig werfe ich die Jacke über, befestig die Hose und schnüre die Schuhe. Ich trete in einen Raum, dessen Wände mit rotem Fahnentuch bespannt und mit goldenen Emblemen von Hammer und Sichel behangen sind. Auf einem Marmorsockel steht, den Raum beherrschend , neben einer Lorbeerpflanze, Stalins gewaltige Bronzebüste.

Seitlich davor steht ein gewaltiger lederbezogener Schreibtisch, an dem auf dekorativ geschnitztem Stuhl mit mächtiger Rückenlehne ein hoher Offizier sitzt. Er stellt anhand von einigen Papieren, die auf dem Tisch liegen, meine Identität fest und beginnt, mich, der ich vor ihm Platz genommen habe, darüber aufzuklären, daß ich über meinen Aufenthalt und das, was ich dabei erfahren habe, kein Sterbenswort, wo, wie und zu wem auch immer, sagen werde. Ich unterschreibe einen russischen Text, ohne ihn bewußt gelesen zu haben.

Mir geht die Frage durch den Kopf, ob ich mit dem Satz, „das ist mein Hemd“, um entlassen zu werden, nicht auch die „Lügenprobe“ bestanden habe, die Bereitschaft erkennen ließ, die Wahrhaftigkeit zu verleugnen. „Jedem ist das eigene Hemd am nächsten“, lese ich später im Tagebuch eines Prominenten, der das Unrecht der Nazi-Zeit anprangert, das späterhin von ihm gleichermaßen erlebte Unrecht der DDR aber hinnahm, seiner ihm dort gewährten Privilegien wegen.

Bevor ich gehen darf, werde ich zu einem neuen Termin nach Schwerin bestellt. Niedergeschlagen und innerlich zerrissen, aber doch auch glücklich, frische Luft atmen zu können, stehe ich gegen 6 Uhr früh auf der Straße, eile zum Bahnhof und steige in den letzten Wagen des Zuges nach Parchim. Von der hinteren Plattform aus beobachte ich die zurückfliehenden Eisenbahnschwellen. In der Blutstraße begegne ich einem sonderbaren Verfremdungsgefühl. Das Theaterfoyer, der Ort meiner Verhaftung, ist unverändert. Von der gegenüberliegenden Straßenseite herüber, aus dem Haus, in dem Ingrid wohnt, werde ich gerufen und freundlich zum Frühstück eingeladen. Ingrid ist mit Biggi bereits zur Schule gegangen. Ich bitte im Gespräch um Verständnis für meine Zurückhaltung, weise aber, verschlüsselt zwar, gleichwohl auf das Erlebte und Bevorstehende hin. Dann gehe ich zur Schule. Von der Klasse herzlich, wenn auch nachdenklich begrüßt, bitte ich die Mitschüler, denen ich leider nichts über den Verbleib von Clemens und Helmut zu berichten weiß, um Verständnis dafür, daß ich in der nächsten Zeit, bis zum Abitur, einen gewissen Abstand einhalten werde. Schon in der Hofpause sehe ich mich isoliert von den leise diskutierenden Gruppen der Klassen- und Schulkameraden. Mich umgibt, was zugleich belastet und erleichtert, offensichtlich Spitzel Verdacht.

Das schriftliche Abitur habe ich versäumt, doch sollte ich, wie EMA mir sagte, Gelegenheit bekommen, sofern ich nicht gar befreit würde, es nachschreiben oder durch die mündliche Prüfung kompensieren können. Während ich vonseiten der Schüler und auch der Lehrer eine korrekte Distanzierung, aber auch freundliche Beflissenheit spüre, wächst meine Hoffnung, trotz der mir in Schwerin auferlegten Verpflichtung, mein „Ziel“, das Abitur, zu erreichen. Von meinem Förderer, Herrn Steinbeiß, vorgeladen, erfahre ich, daß er von meiner Rückkehr stets überzeugt war. Dies meinen Eltern mitzuteilen, hätte er wohl erwogen, dann aber für unnötig erachtet. Ich möge doch alles recht bald vergessen. Gewiß, das System handle anders, als wir es manchmal möchten, halt eben der russischen Mentalität entsprechend, letztlich aber, wie sich zeigt, doch sehr erfolgreich. Dem müsse ich Rechnung tragen, wenn ich das Abitur machen wollte, was den Leistungen nach überhaupt kein Problem sei. Ich solle nun aber in die FDJ eintreten. Darauf müsse er bestehen. Ich würge, versuche die Unterschrift hinauszuschieben, weil ich mich noch nicht reif genug dafür fühle, ohne Erfolg. Vor die Alternative gestellt, FDJ- Mitgliedschaft und Abitur oder Consilium abeundi und Verzicht auf das Studium, habe ich kein andere Wahl, ich unterschreibe, bin also Mitglied der FDJ. Sofort drückt er mir ein vorbereitetes Blatt in die Hand mit einem Gedicht, das ich am kommenden Sonntag anläßlich einer Feierstunde in der LPG in Mestlin, vortragen soll. Ich erkläre mich nach den letzten Wochen für sprachlich weniger gut geeignet, weise auf bessere Sprecher aus der FDJ hin. Nein, ich müsse, es sei meine Aufgabe. Das Gedicht verherrlicht den Aufbauwillen des Volkes.

Es erscheint insgesamt aber hinnehmbar und frei von übertriebenen Phrasen. In Mestlin, wo mein Vater unterdessen vom Wachmann an der Eingangspforte zum Buchhalter in der Personalabteilung aufgestiegen ist, entledige ich mich unauffällig meiner Aufgabe. Wenige Tage später beim NKWD-Treffen in Schwerin weise ich auf den Beitrag in Mestlin hin und rekapituliere das Gedicht. lch werde ohne sonstige Befragung entlassen, allerdings mit einem neuen Termin, noch vor Ostern. Damit beginnt ein unbarmherziger Wettlauf mit der Zeit. Hier das Abitur, dort der Termin. Die nächste Begegnung verläuft viel härter als erwartet. Man will „Informationen“, die ich nicht geben kann. Der Offizier droht, wenn ich nichts weiter zu sagen habe, müsse er andere Methoden anwenden. „Natürlich kannst Du in den Westen gehen, in das „verfaulte“ kapitalistische System, das zum Untergang verurteilt ist. Aber wir werden Dich nicht vergessen. Und wo Du auch bist, wir werden Dich finden“.

Am nächsten Tag tritt auf der Blutstraße, gegenüber der Oberschule ein jüngerer, mir unbekannter Mann auf mich zu und sagt: „Du, Du bist hier. Mensch, ich dachte, Dich sehen wir nicht wieder. War es einer jener Schergen oder einer der auf mich Angesetzten? Ich nahm die Begegnung als Fingerzeig des Himmels. Das „Ende der Blutstraße“ ist angebrochen. Als einziger Ausweg bleibt die Flucht.

Was schmerzt, ist der Verzicht auf das so hart angestrebte und so nahe vor mir liegende Abitur und die Ungewißheit, was mich nun erwartet. In der Haft habe ich oft über meinen Lebensweg nachgedacht. Das Berufsspektrum reichte vom Holzfäller in Sibirien über den Bergarbeiter in Aue bis hin zur Tätigkeit als Arzt. Immer deutlicher kristallisierte sich nach allem, was der Krieg und Nachkrieg mir auferlegt hat, das Arztsein als Traumberuf heraus. Verbunden damit dachte ich an Theologie, das Bindeglied war die Missionsmedizin.

Mein Leben sollte den Hilfsbedürftigen gehören, nachdem ich die ebenfalls ernsthaft erwogene Lebensweise eines Eremiten, womöglich in einer Gebirgshütte oder im Kloster, abgestreift hatte. Im Falle meines Freikommens eine Kapelle zu stiften, wie es in meiner Heimat der Brauch gewesen wäre, oder mir anderweitig eine Buße aufzuerlegen, solcherart „Gottesgeschäfte“ abzuschließen, erschien mir unvereinbar mit meiner Gottesverehrung, die mir seit meiner gewiß nicht immer untadeligen Ministrantenzeit zu Hause im Sudetenland doch am Herzen lag und die mir oft sonderbare Kraft gab in schweren Stunden. Wieder kommt mir der Zufall oder ein besonderes Geschick zu Hilfe.

Nach Augzin, wo ich die Osterferien antrete, kommt ein mit meinen Eltern heimatlich verbundenes Ehepaar zu Besuch. Da ich über Ostern ja gerade einmal Berlin besuchen will, so lautet die Version, trifft es sich gut, wenn ich mit ihnen führe. Die Eheleute wohnen in Königs Wusterhausen, im Südosten Berlins, wo der „Soldatenkönig“ gern jagte und seine langen Kerls ausbildete. Natürlich kamen die Heimatfreunde nach Mecklenburg „über Land“, um die österliche Hungertafel aufzubessern. Während mein Vater ein paar Eier und Kartoffeln holt, etwas Speck, Mehl und Butter zusammenträgt, packt meine Mutter mir zwei frische Hemden in die Aktentasche und eine vom Brotlaib geschnittene, durchgeteilte Butterstulle dazu. In die Hand drückte sie mir dabei einen kleinen, vom Zeitungsrand abgerissenen Zettel mit der darauf gekritzelten Anschrift von Anni Gritzan in der Stromstraße Berlin. Dorthin solle ich gehen und der Schwester des ostpreußischen Bauern und guten Nachbarn der Eltern einen Gruß bestellen. Seine Schwester, eine in Berlin seit langem unverheiratet lebende Frau, werde mir gewiß weiterhelfen können.

Es ist der Mittwoch vor Ostern 1950. Mit dem befreundeten Ehepaar mache ich mich auf den Weg zur 10 km entfernten Bahnstation, abwechselnd mit ihnen die vollen Taschen schleppend. Am späten Abend sind wir in Berlin, gegen Mitternacht in Königs Wusterhausen. Nach einer kurzen Nacht breche ich gleich nach dem Frühstück auf zur Fahrt nach West-Berlin. Vom S-Bahnhof Putlitzstraße[10] gehe ich über die Eisenbahnbrücke stadteinwärts und komme in der noch arg zerstörten Stromstraße, vorbei an Ruinen, zu dem Haus, in dem ich Anni Gritzan antreffen soll. Die Blutstraße liegt hinter mir. Ein neuer biographischer Abschnitt beginnt.


Nachträgliche Anmerkungen von Stephan Klaschka (Sohn)

[1] [Anmerkung: Fred Mrotzek schrieb in seinem Buch „Die DDR – eine deutsche Geschichte“: „In Krisenzeiten und Systemumbrüchen kann die gesellschaftliche Balance aus dem Gleichgewicht geraten. Das gilt für die mecklenburgische Kleinstadt Parchim, die in der Nachkriegszeit zum Schauplatz extremer stalinistischer Verfolgungen wurde. Politische Verhaftungen, verbunden mit hohen Zuchthausstrafen und Todesurteilen, terrorisierten die Bevölkerung nach 1945 über Jahre. Gemessen an der Bevölkerungsanzahl dürfte die Stadt den höchsten Anteil an vollstreckten Todesstrafen in der SBZ/DDR erfahren haben. Nicht nur ein paar Leute aus Parchim erlitten dramatisches Unrecht.“]

[2] [Anmerkung: in der Hitlerjugend]

[3] [Anmerkung: U-Bahn Station Gesundbrunnen in West-Berlin]

[4] [Anmerkung: Gemeint ist hier offenbar die verschleiernde “offizielle” Todesursache gemeint, die einem fatalen Zusammenstoß mit der sowjetischen Geheimpolizei oder der Stasi folgte.]

[5] [Anmerkung: RIAS = Radio im amerikanischen Sektor, West-Berlin]

[6] [Anmerkung: Gemeint ist das sog. „Stockholm-Syndrom“]

[7] [Anmerkung: Diese langsame, besonnene Eßgewohnheit behielt mein Vater bei solange ich mich erinnern kann.]

[8] [Anmerkung: Klaus Bednarz, Autor der „Ballade vom Baikalsee“]

[9] [Anmerkung: Meine Eltern sprachen beide offenbar sehr gut Russisch, und das sie, vor meiner Geburt, wie sie mir sagten, vor gehabt hatten, Puschkin aus dem Russischen ins Deutsche zu übersetzen. Sie kamen nie dazu. In meiner Gegenwart sprach mein Vater nie Russisch oder gab zu verstehen, dass er Russisch sprach, auch wenn andere Verwandte zuweilen sich aus Spaß auf Russisch unterhielten.]

[10] [Anmerkung: Seit 1999 umbenannt in S-Bahnhof Westhafen]

3 comments on “„Blutstraße“ – Oberschulzeit in Parchim, 1946-1950

  1. Marianne Kleetz - Matheis
    September 13, 2022
    Marianne Kleetz - Matheis's avatar

    Lieber Stephan Klaschka, das was ich gerade von Ihrem Vater gelesen habe, ist Hochinteressant, ich bin zufällig auf den Namen Klaschka gestoßen. Ich habe Ihre Eltern, vor allem Ihre Mutter ca. 1970 kennengelernt. Ihre kleine süße Schwester Anne war bei mir in der Kita Gruppe Bretnacher Straße. Ich war dort damals Erzieherin. Ich möchte sie sehr, Ein freundliches, kluges Mädchen. Auch ihre Mutter möchte ich sehr. Ich freue mich, so etwas interessantes über ihre Eltern zu lesen, es hat wieder viele Erinnerungen in mir ausgelöst. Liebe Grüße M. Kleetz

    • Stephan Klaschka
      September 13, 2022
      Stephan Klaschka's avatar

      Vielen Dank, Frau Kleetz, und ich freue mich, dass Ihnen der Beitrag gefällt. Leider ging meine Schwester viel zu früh von uns (2015), ich vermisse sie sehr. Ich habe einige Bilder von ihr gepostet auf: https://anne.cloud/

  2. Marianne Kleetz - Matheis
    September 22, 2022
    Marianne Kleetz - Matheis's avatar

    Lieber Stephan Klaschka, mit großem Entsetzen habe ich gelesen, daß ihre Schwester Anne nicht mehr lebt, es tut mir sehr leid. Sie war eine hübsche Frau. Vielen Dank für die Bilder. Die Kleine Anne am Strand, so habe ich sie in Erinnerung, auch wie ihre Mutter von Portugal schwärmte. Ich wünsche ihnen alles Gute. M. KLeetz

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This entry was posted on January 16, 2020 by in Biographisches.