Prof. Dr. med. Franz Klaschka

In Memoriam *1930 – †2006

“Quallenkost: Eine maritim-vegetarische Spezialität”

Auch diesen Sommer verbrachten wir nahe am Golf von Cádiz. Bei Sonne, Wind und Meer den Tag auszukosten und abends zum Wein die Auster, den Fisch, den Quejo des cabres zu genießen, war unser Leben. Noch fehlte aber
die gewohnte Algarve-Seligkeit. Und es schien, als hatte dieser Sommer eine andere Qualität.

„Das liegt am Wind”, sagte Werner und strich über seinen flachsblonden Bart. „Dem Wasser fehlt dadurch die gewohnte Hautsämigkeit”. „Der steife Südwest”, meinte Stephan, “verändert die Hydrophilie”. Das saß.

Von der „Sämigkeit” des Wassers als Urlaubskriterium zu sprechen, mag dem Nichteingeweihten komisch, wenn nicht gar ein bißchen verschroben erscheinen. Dem Kenner aber ist sie ein Gütezeichen der Haut-Wasser-Beziehung in jener Bucht. Dieser Sinnesfreude eingedenk, diskutierten die Urlaubsfreunde, Werner, Stephan und Jochen, unverdrossen weiter. Eine
Erklärung für das seltsame Phänomen fanden sie jedoch vorerst nicht.

Am Abendhimmel blitzten die Sterne auf. Große und kleine gruppierten sich, unberührt von der Flugbahn vorbeiziehender Satelliten, zu uralten Zeichen und Bildern. Die Himmelsbetrachung nutzte Stephan zu einem neuen Versuch, dem Problem naher zu kommen. „Es liegt”, rief er, „nicht an einem Zuviel, sondern an einem Zuwenig, wissen wir doch, daß die Wasserqualität nicht zuletzt mit dem Quallenbestand korreliert. Und ich habe bisher noch keine einzige Qualle gesehen”. „Unsinn”, entgegneten die Freunde und lachten, etwas voreilig, wie sich zeigen sollte. Gegen Stephans gewagte, aber keineswegs unzutreffende Bemerkung fehlte ihnen ein überzeugendes Argument. „Zugegeben”, warf Jochen ein, “Oft erscheinen ja auch große Entdeckungen, wenn sie erst gemacht sind, überraschend einfach, nahezu selbstverständlich”. Man kam überein, der Frage weiter nachzugehen. Am besten durch Augenschein.

Wohl niemand, der einer Qualle je begegnet ist, wird das Thema leichtfertig abtun können. Also beschlossen die Drei ohne Vorbehalt eine Expedition, um die Anzahl, die Vielfalt und -wenn möglich- den Formenreichtum zu erkunden. Kein Zweifel, mit ihrer Farbenpracht und Schwebeeigenschaft bilden die Quallen einen Glanzpunkt im Biotop der Ozeane.
Daß ihre Entstehung, ihre Morphe und Konsistenz mit der jeweiligen Wasserqualität kommuniziert, liegt nahe. Zu klären ist freilich, inwieweit ihr Aufkommen von der Wassertemperatur, dem Strömungsverhalten und dem Salzgehalt abhängt. Andererseits wird niemand bestreiten, daß diese Geschöpfe, wenn sie in Myriaden auftreten, dem Wasser eine Art Leibhaftigkeit und konkrete Fühlbarkeit verleihen, die das Haut-Wasser-Sensorium erfahrbar macht.

Die Qualle nur als glitschige, hautreizende und womöglich unnütze Urlaubsplage abzutun, wie es nicht selten geschieht, wäre Ausdruck einer zivilisatorischen Engstirnigkeit. „Nein“, rief Jochen begeistert aus, „den Quallen steht die Zukunft noch bevor“. „Ich behaupte sogar“, fuhr Stephan fort, „die Quallenforschung erschließt eine neue ökologische Prozedur – den Weg in die maritime Globalität“. „Bleibt nur die Frage“, gab Werner zu bedenken, „ob der Mensch dieses Angebot der Ozeane Überhaupt zu nutzen weiß“. Daraufhin bekräftigten die Drei ihren Beschluß, durch Augenschein in Erfahrung zu bringen, ob die Golfregion tatsächlich ein Quallendefizit aufweist. Mitternacht war längst vorüber, als die Freunde auf das gute Gelingen anstießen.

Ich hatte das Gespräch zuvor genau verfolgt, jedoch nicht selber eingegriffen. Der Kraft des Weines eingedenk, war mir bewußt, daß ich Zeuge eines Aufbruchs geworden war, dessen Elan ein Abenteuer jugendlicher Forschung zu werden versprach.

Am frühen Morgen sah man drei ranke und schlanke Gestalten am Strand bei der emsigen Suche nach aufschlußgebenden Fundstücken. Im Aufheben, Prüfen und Bewerten der Gegenstände spiegelte die Körperbräune das Licht der aufgehenden Sonne, erst dunkelrot, dann goldgelb. Und im Funkeln der Reflexe leuchtete der Eifer ihres Suchens.

Zurückgekehrt vom Strand, schenkten die drei Frühaufsteher dem Morgenkaffee, den Anne kräftiger als sonst zubereitet hatte, weit weniger Beachtung als einer mittelgroßen Blauqualle und zwei kleineren, jedoch gut erhaltenen Feuerquallen. Ihre Tentakel bildeten an der rostroten Unterseite ein netzartiges Geflecht und bedeckten teilweise die höhlenförmige Mundöffnung. Von Muschelschalen, Seeigeln und Thunfischknochen umgeben, lagen die Fundstücke in einer angeschwemmten Zitronenkiste und gaben Anlaß zu einem lebhaften Disput.

„Alles, was wir da haben, spricht weder für noch gegen die aktuelle Sämigkeit oder, besser gesagt, die Seimigkeit des Meeres“, subsumierte Werner. „Außerdem kann vom Aussterben der Quallen keine Rede sein imGegenteil“, fuhr er fort, „bei aufkommendem Levante, dem warmen Wind aus Süd-Ost, wird der Quallenbestand vermutlich zunehmen“. „Kommt der
Quallenwind, wollte Jochen wissen, „nicht eher von Süd-West, vom Atlantik her?“ „Dagegen spricht“, meinte Werner, “der heutige Fund“.

„Gleichwohl“, konstatierte Stephan, „wird die Hypothese von der Quallen- und Wasser-Redundanz dadurch nicht erschüttert“. Damit gab er dem Gespräch eine neue Richtung. Indem er ebenso Überraschend wie Überzeugend die Idee einer für die Menschheit nutzbringenden Verwendung des Quallenpotentials aufgriff und konkretisierte, forderte er die anderen
mit der Frage heraus, „ob es gelingen konnte, ein Quallensteak zu braten“.

Den Freunden verschlug es die Sprache. Das anfängliche Staunen verwandelte sich in grenzenlose Neugier. Bereit, die Herausforderung anzunehmen, begann, kopfschüttelnd zwar und aufgeregt, ein neues, ungewöhnliches Experiment. „In Scheiben geschnitten“, meinte Jochen, „zerfließt die Qualle doch sofort zu Wasser“. „Keineswegs“, widersprach Werner.
„Mit der Schaufel am Strand zerlegt, behielten die Quallenstücke, wie ich sah, durchaus ihre Gestalt. Was damit aber in der Pfanne geschieht, weiß der Himmel“. Stephan, der die Einwände offenbar erwartet hatte, setzte die Überlegung zielbewußt fort: „Der Knackpunkt liegt also, und darin stimme ich Euch zu, im Stabilisieren des Quallengerüstes beim Frittieren oder Braten. Wenn der Wasseraustritt durch schlagartiges Erhitzen vermieden werden kann, muß das Quallensteak gelingen“. „Öl“, rief Werner und setzte den Gedanken fort, „Eintauchen in siedendes Öl läßt das Eiweiß blitzschnell gerinnen und stabilisiert die Form. Damit wäre der Pfannentest jedenfalls gewonnen“. „Richtig gewürzt“, warf Jochen ein, „dürfte ein solches Minutensteak aus Blau- oder Feuerqualle zur Delikatesse werden. Man reiche mir die erste Probe“, fügte er ironisch hinzu, “uns erwartet das Buch der Rekorde. Welch ein historischer Augenblick!Merkt Euch also das heutige Datum“.

Die Sonne stand gegen Mittag. Begeistert von der neuen Idee, wollte man in die Küche stürmen zur frischen Tat. Da holte das Überlegene Lächeln von Anne die Voreiligen zurück auf den Boden der Wirklichkeit. „Wie Ihr Euch das denkt, geht es natürlich nicht“, sagte sie. Und die Art der Rede ließ keinen Zweifel an der Küchenpraxis aufkommen. „Ich zeige Euch,
wie das Rezept, sagen wir, Qualle im Schlafrock, praktisch aussehen könnte. Also: Wir trennen die Tentakelreste und Schwimmlamellen fein säuberlich vom Quallenleib ab. Das macht Stephan. Dann tranchieren wir den Körper in fingerdicke Scheiben, tauchen sie in Mehl, Ei und Semmelbrösel nach Art des Wiener Schnitzels. Die Panade erlaubt das Garen
und wird zur knusprigen Hülle. Ob das saftige Schnitzel dann mit Mandelsplittern verfeinert, besser schmeckt als mit Tomatenketchup oder Currysauce, ob garniert mit Spiegelei und Sardinen à la Holstein, das müßt Ihr dann selber herausfinden”.

Der Vorschlag schien vernünftig und wurde allseits angenommen. Jeder übernahm die ihm von Anne zugewiesene Aufgabe. Das Rumoren, Schaben, Reiben und Bruzzeln, dazu die muntere Unterhaltung, das alles versprach ein gutes Gelingen. Die Mahlzeit war köstlich. Und der kühle Wein dazu regte die Phantasie zu immer neuen Kreationen an. Eine neue maritime
Ernährung von ungeheuerer Vielfalt war geboren. Weil das Quallenfleisch aus dem Meerwasser entsteht, enthalt es natürlich auch, von geringen Ölspuren und Verklappungsresten abgesehen, eine Fülle lebenswichtiger Nährstoffe: Neben Eiweiß-, Vitamin- und Ferment-Anteilen insbesondere Jodsalze und andere Mineralien. Damit bietet die Quallenkost eine optimale Kombination von Bio-Masse und Vollwertnahrung, das heißt, die Grundlage einer medizinisch empfehlenswerten Ernährungstherapie und einer Entschlackungsdiät für Herz-, Leber -und Nierenkranke.

“Feuerquallensteak in Mandelteig an Feigenpüree” empfehle sich für Rheumakranke, meinte Jochen. In hartnackigen Fallen „wäre eine Zubereitung von Tentakelextrakt und Fermentwürze aus den Saugnapfostien denkbar. Kroß geröstet und leicht unterzogen mit Melonensirup konnte das Quallengericht gar zur Delikatesse in Feinschmeckerlokalen werden lassen. Klinisch erprobte Spezialitäten seien eine Option für Sanatorien, nämlich “Quallenkost als Schlankmacher”. Abnehmen ohne zu hungern, lautet die neue Devise.

Da sah einer sich schon in der Rolle eines Kurheimdirektors oder des
Leiters einer neuen Kette von Fastfoodhäusern. Eine Blauquallenplatte
kennte Gallenkranke heilen, hieß es. Für Heufieber- und Asthmapatienten
wäre Feuerquallenfrikassee eine therapeutische Revolution. Sogar das
Stockholmer Nobelpreis-Komitee käme an dieser Novität nicht vorbei.
Einzuführen wäre eine neue Nominierung für innovative Küchenchemie.

Mit ihrem Experiment waren die drei Urlaubsfreunde zwar vom eigentlichen Thema abgewichen, nun aber setzten sie diesen Gedankenflug unbekümmert fort. Jochen träumte weiter von der Krönung in der Anlage eines Quallenspezialitäten-Restaurants und Stephan dachte an die Gründung eines Feinkostladens mit Tentakel-Kanapees. Dabei liebäugelten sie beide mit dem Posten des Direktors oder gar des Leiters einer weltweiten Kette.

Die Tafel wurde aufgehoben und der erste konkrete Schritt in die Zukunft vorbereitet. Dabei hatte der exzellente Tropfen bei Tisch seine Wirkung nicht verfehlt. Als ich nun aber vernahm, “der Alte” könnte das Projekt mit einer gutachterlichen Expertise zur Vorlage bei der staatlichen Gesundheitsbehörde entscheidend fördern oder gar einfordern, zog ich mich zum Tee in mein Nebenquartier zurück. Überwältigt von den Ereignissen des Tages, hatte ich dort ein Weilchen geruht, so daß mir einige weitere, nicht alltägliche Höhepunkte entgangen waren.

Als ich dann zu den Urlaubsgästen zurückkehrte, war die Diskussion zwar noch im vollen Gange. Im Mittelpunkt der Thematik aber stand nicht mehr das Quallenprojekt oder gar die Meeres-Seimigkeit, sondern ein anderes Problem, die Frage nach dem besten Köder für den morgigen Angler-Ausflug: Wattwurm, Miesmuschel oder Hühnerbein.

 

Franz Klaschka, Gstadt

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This entry was posted on June 18, 2014 by in Cacela, Familie.