Was eine Lügenprobe ist und wie sie funktioniert, erfuhr ich, der 19-jährige Oberschüler, bei der Entlassung aus dem Kerker der sowjetischen Geheimpolizei, GPU, in Schwerin, Mecklenburg, Anfang April 1950. Der Tort, der dabei auf mich zukam, erscheint mir heute noch als eine von Stalin persönlich inszenierte Perfidie. Am 23. Februar 1950, dem 33. Jahrestag der Roten Armee, im Stadttheater von Parchim verhaftet, führten mich zwei Geheimdienst-Schergen der im Oktober 1949 gegründeten DDR in Zivilkleidung – lange Mantel, tiefsitzender Hut – vom Theater, dem Ort der nachmittäglichen Feierstunde zu Ehren der Roten Armee, wohin die Schülerschaft befohlen worden war, nach außen hin unauffällig ab in das Internat, vormals Russenkaserne, jetzt Schülerheim, in dem ich wohnte.
Warm angezogen, wie mir befohlen war, ging es von dort – streng bewacht – weiter zum zuständigen Polizeirevier am Moltke-Park, gegenüber dem “Parkhotel”, in dem die sowjetische Kommandantur saß. Auf der Wartebank im Polizeirevier, wo ich zwei drei Stunden bis zur Übergabe an die GPU ausharren mußte, wurde ich Zeuge des bereits etablierten Spitzelsystems. Durch die zeitweise einen Spalt weit offen gebliebene Tür, neben der ich saß, hörte ich, besonders deutlich beim Eintreten und Herauskommen von Männern, im Nebenraum die markante Stimme eines Versammlungsleiters, etwa so: “Zum Wallgraben: Genosse, Ihren Bericht”, worauf der Angesprochene antwortete: “Haus Nummer eins, der Mann geht morgens pünktlich zur Arbeit und kommt abends gegen 18 Uhr auf direktem Weg nach Hause. Die Frau besorgt den Haushalt, geht einkaufen, wenn die Kinder, der Sohn ist 12, die Tochter 9, in der Schule sind”. Darauf die Stimme des Herrn:” Keine Besonderheiten also. Weiter”. “Vor dem Haus Nummer zwei parkt seit gestern eine dunkle Limousine, Kennzeichen bekannt”. “Besitzer ermitteln und alles weitere, bis morgen”. So ging es weiter, Haus für Haus und Kopf für Kopf. Mir wurde klar, wie eng das Netz der Geheimpolizei bereits um uns gezogen war.
Gegen Mitternacht wurde ich abgeholt. Bis dahin hatte ein deutscher Polizeibeamter hinter dem Schreibtisch gesessen und mich bewacht, ohne ein Wort zu sagen. Draußen hielt eine Limousine. Ais einer der Insassen, ein GPU-Offizier, ausstieg und in den Raum trat, nickte ihm derPolizist, den Kopf auf mich gerichtet, zu, worauf der Russe mich mitnahm und mich in den Fond des Wagens schob. Links und rechts bewacht von zwei Uniformierten mit grünen Kragenspiegeln, brachte man mich auf weithin dunkler Straße nach Schwerin in das GPU-Gefängnis. Nach sechswöchiger Einzelhaft, in der mir wiederholt Schlage, Stiefeltritte und frühmorgendliche Verhöre, auch unter Drogen, verpaßt worden waren, wurde ich in eine Zweibett-Zelle Überstellt, in der ein etwa 30 Jahre alter Mann saß.
Da einer dem anderen schwer mißtraute, schwiegen wir uns gegenseitig einen Tag lang an. Wohl darauf bedacht, daß jedes unüberlegt gesprochene und weitergetragene Wort, allein der Name eines Ortes oder einer Person, schreckliche Folgen haben konnte, vermied ich sogar die Frage, wie lange er schon in Einzelhaft gewesen war, in der ich selbst, abgesehen von den nächtlichen Verhören, das Reden nahezu verlernt hatte und nun das Explodieren der Sprache kaum zu beherrschen vermochte.
Überaus vorsichtig und jedes Wort abwägend kamen wir ins Gespräch, indem wir zunächst vereinbarten, nur über politisch unverdächtige Dinge zu reden. “Ich bin Maurer”, sagte er, “speziell Fabrikschornsteinbauer”, worauf ich mich als Oberschüler aus Parchim zu erkennen gab. “Aus Parchim”, rief er, “da sind Sie nicht allein. Das Haus ist voll von Schülern aus dem ganzen Land”. Genau dieses hatte ich bereits in meiner Zelle vom Nachbarhäftling aus Ludwigslust durch die nächtlich ausgetauschten Klopfzeichen erfahren. Ihre Methode, das deutsche und russische Alphabet gemeinsam zu benutzen, wobei z.B. das deutsche B zugleich ein W in Russisch, das deutsche C ein russische S sein konnte, wodurch die Zahl der Klopfzeichen sich erheblich reduzieren ließ, das hatte ich schnell begriffen und auf diesem natürlich sehr riskanten Weg auch manches erfahren. Was ich jedoch nicht wußte, war, daß Clemens und Helmut, zwei meiner engsten Klassenkameraden, die im Oktober 1949 verschwunden waren, in demselben Trakt einsaßen und mich durch ihren zerbrochenen Türspion hatten sehen können. Zur Zeit ihrer Verhaftung lag ich mit Paratyphus B im Parchimer Krankenhaus. Im Dezember 1949 nach längerer Quarantäne von dort entlassen, besuchte ich, in der Hoffnung, bis zum Abitur verschont zu bleiben, die Schule weiter, obwohl mir Crux, Herr Creutzfeld, unser Latein- und Geschichte-Lehrer, Anfang Januar 1950 die Warnung zugeflüstert hatte, unverzüglich nach Westberlin zu gehen, denn „wir haben Angst um Sie“. Er hatte Recht. Ich blieb naiv genug und büßte dafür. Meine Klassenkameraden Clemens und Helmut wurden im Juli 1950 in Schwerin wie damals üblich ohne fairen Prozeß zu 10 oder 15 Jahren Sibirien verurteilt. Sie kamen bemerkenswerterweise über den Bahnhof Zoo im getarnten Brotlieferauto nach Ostberlin und im Spezial-D-Zug in Etagen-Drahtnetzen dreistöckig liegend bei verschlossenen Fenstern, verköstigt mit einem trockenen Salzhering zur Reduzierung der Harnausscheidung, in die Lublianka in Moskau, wo sie an Wandkritzeleien die Namen und Daten von früher dorthin verbrachten Schulkameraden antrafen. Clemens kam in den berüchtigten GULAG Workuta am Polarkreis, Helmut geriet an den Baikalsee. Körperlich und seelisch gebrochen kehrten beide erst nach Jahren zurück.
Zwischen dem Maurer und mir entstand allmählich ein maßvolles Vertrauen. Wir beschlossen, uns gegenseitig die Namen und Orte unserer Angehörigen einzuhämmern und sie im Falle der Entlassung des einen oder anderen von uns entsprechend zu informieren. Während ich eher pessimistisch ein hohes Strafmaß im sibirischen Arbeitslager in Betracht zog, war er felsenfest zumindest von seiner Entlassung überzeugt. Er sollte Recht bekommen.
Zwei Tage und zwei Nachte lang erzählte mir der Maurer und Schornsteinbauer von allen denkbaren Baumaterialien und bautechnischen Formationen, die über den Haus- und Schornsteinbau weit hinausgriffen, so eindrucksvoll, daß ich mich – theoretisch zumindest – nahezu reif für die Gesellenprüfung hielt. Diesem handwerklichen Erfahrungsgut, das mir in Rußland wohl hatte zugutekommen können, hatte ich allenfalls meine Erlebnisse und Kenntnisse als Pferdeknecht entgegenzusetzen. In der dritten Nacht geschah das Unerwartete.
Gegen drei Uhr morgens rasselte das Schloß der Zellentür, sie wurde aufgestoßen und herein fiel der Name meines Zellengenossen. Er nahm seine Decke und verließ den Raum mit einem im Vorbeigehen mir zugewandten Lächeln, als wollte er sagen, wie recht ich doch hatte. Wieder allein in der Zelle, würgte mich plötzlich der Verdacht, womöglich doch abgeschöpft worden zu sein. Womit? Wodurch? Jeder erdenkliche Verrat schien möglich.
Eine knappe Stunde später, wohl gegen halb vier, erneutes Donnern im Türschloß, diesmal galt der Aufruf mir. Berauscht von der Hoffnung, nun auch entlassen zu werden, folgte ich mehr schwebend als gehend dem “Dawai. Poschli” des jungen, auffallend blassen und mageren Uniformierten, der allenfalls ein oder zwei Jahre alter war als ich, der nun aber nicht, wie von mir erwartet, die Treppe hinunter zum Ausging hin ging, sondern treppauf stieg, vorbei an der oberen Gefängnisetage, auch an meiner früheren Einzelzelle, hinauf an den Seitengittern des Treppenhauses, die den Absprung in die Tiefe verhindern, bis in das Dachgeschoß des riesigen Gebäudes. Unter dem Gebälk mit seinen Sparren und Verstrebungen öffnete sich, unterteilt von Schornsteinblöcken, ein Geviert von je etwa 60 Metern Seitenlange. Und jede Seite wies eine Reihe von rund 20 Holzbottichen auf, deren Hohe von gut 1,20 m in etwa auch ihrem Durchmesser entsprach. Wäschezuber also sonder Zahl, vor denen ich stand, allesamt bis oben hin gefüllt mit eingeweichter Leibwasche, wie im kalten Neonlicht zu erkennen war.
Mein Bewacher blieb an der eisernen Bodentür stehen, fuhr mit einer lässigen Armbewegung über die Wäschebehälter hin und sagte beiläufig auf Russisch, das ich recht gut verstand: “In einem der Bottiche ist Dein Hemd. Suche es Dir heraus. Wenn du es gefunden hast, kannst Du nach Hause”. Während er, an den Türrahmen gelehnt, seelenruhig ein paar Machorka-Krümel aus der Manteltasche klaubte und sie in ein abgerissenes Stückchen Zeitungspapier drehte, es dann ableckte und inbrünstig anrauchte, stürzte ich mich, von Hoffnungsglück angefeuert und gepeinigt von Angst, nicht fündig zu werden, auf den ersten Zuber. Hastig durchwühlte, prüfte und verwarf ich, was ich in die Hände bekam. Nichts. Also sprang ich zum zweiten, zum vierten, zum sechsten Bottich, ohne Erfolg. Oberwiegend Hemden mit Russenkragen. Naßgespritzt über und über von klebriger Seifenlauge, die Brust durchnäßt bis auf die Haut, kam plötzlich die Frage auf, wie das Hemd, das mir bei der Inhaftierung abgenommen worden war, überhaupt aussah. War es das rotgemusterte oder das am Ärmel geflickte weiße? Die Aufregung warf meine Erinnerung ins Nebelhafte. Das Gedächtnis suchte fieberhaft und ließ mich doch im Stich.
Verzweiflung kam auf. Sie wuchs und wurde zu einer fürchterlichen Bedrohung. Unbeeindruckt von meiner irrsinnigen Suche stand der Wachposten an der Tür und sog am zweiten oder dritten selbstgedrehten Stummel. Mit jedem erfolglosen Griff, den ich inzwischen am 15. oder 18. Zuber tat, rann mir die Zeit, die schrecklich drängte, wortwörtlich durch die Finger. Ich ließ einige Behälter aus, rannte um die hintere Ecke des weiten Raumes und stand dort wieder nur vor einer Reihe bis oben hin gefüllter Bottiche. Da überfiel mich eine Vision aus dem Inferno der Göttlichen Komödie von Dante. Ich sah mich allein im Vorhof der Hölle und diese Plage lähmte das Denkvermögen, raubte mir gar den Verstand. Vor dem Absturz ins Bodenlose regte sich erneut der Freiheitsdrang in mir, doch wurde jede Phase sogleich unterdrückt von der Frage: Was geschieht mit Dir, wenn der erlösende Griff nach Deinem Hemd mißlingt? Kann er denn Überhaupt gelingen? Niemals, nach alledem, was hier geschieht.
In tiefster Not, Herr, flehe ich zu Dir, schickte ich ein Stoßgebet nach oben. Herr, laß es mich finden!Aber mein Seufzen verhallte lautlos im Dachgebälk. Da vernahm ich beim Hin- und Herhasten eine innere Stimme, die sagte: Du stehst ganz nahe davor. Sei mutig, greife zu und prüfe! Nimm, was Dir – gerade jetzt – in die Hände kommt. Damit gehe hin und sage: Das ist mein Hemd.
So geschah es. Der Soldat nahm einen letzten tiefen Zug, drückte den kurzen Zigarettenrest am Türrahmen aus und wies, indem er den Tabakrest in die Manteltasche krümelte, mit dem Kopf zur Tür. Er führte mich nun die Treppe hinunter ins Erdgeschoß. Vor der Kleiderkammer erstarrte mein Tritt. Angst und Scham marterten mein Gewissen: Wie, wenn das nasse Hemd in Deiner Hand nicht Dir gehört, sondern einem anderen? Welche Konsequenzen ergeben sich aus Deinem möglichen Irrtum? Was steht hier auf Betrug, auf Entwendung gar von staatlichem Eigentum? Die Sowjet-Union bestraft Mißbrauch oder Diebstahl besonders hart. Mit zehn, fünfzehn oder fünfundzwanzig Jahren Zwangsarbeit in der Taiga, am Baikal, im Gulag unter Tage? Oder gar mit dem Tod?
Vor der Kleiderkammer klopfte mein Bewacher den Diensthabenden heran an den Tisch. Mein Herz raste, schnürte mir die Kehle zu. Der Kleiderverwahrer aber griff, ohne jede Regung, nach dem Hemd und warf es, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen, in den Wäschekorb neben ihm.
Mit dem Zettel, den mein Bewacher ihm zugeschoben hatte, in der Hand, ging der Kleidermann in sein Verlies und brachte einen grünen Leinenbeutel aus dem Fundus der Kammer, zog die Schnur auseinander und legte alle mir bei der Einlieferung abgenommenen und aufbewahrten Dinge auf den Tisch: Neben dem Inhalt meiner Taschen, den Ledergürtel und die Schnürsenkel der Schuhe. Dazu auch mein abgelegtes Hemd.
Erlöst gleichsam von einer Sündenlast, stürzte ich mich beschwingt in meine Kleider. Der Soldat reichte mich weiter an einen Uniformierten im Offiziersrang. Und dieser führte mich in einen hohen, mit rotem Tuch ausgeschlagenen Raum, der reich dekoriert war mit goldfarbenen Sowjet-Emblemen und sozialistischen Sprüchen an den Wänden. Neben Hammer und Sichel dominierte Stalins gewaltige Bronzebüste auf massivem Marmorsockel, eingerahmt von Lorbeerbüschen, das Heiligtum der Macht, und verströmte eine seltsam bedrückende Weihe.
Ein schwerer Eichentisch mit gediegenen Schnitzereien gab dem ranghohen, überaus ordensschweren Offizier, der auf einem thronartigen Sessel dahinter saß, eine seltsame Würde. Zum reich geflochtenen Gold auf den Schulterstücken paßte der doppelt handflächengroße, emaillierte Zierat an seiner Brust. Er bestand aus allerhand bunten Metallschildchen von Briefmarkengröße und reflektierte das matte Neonlicht, das den Raum in eisige Kalte hüllte.
Der Mogul hinter dem Tisch, vor dem ich niedrig Platz zu nehmen hatte, prüfte anhand der ihm zugereichten Papiere meine Identität und begann, mich auf Russisch mit eingestreutem dürftigen Deutsch darüber aufzuklären, welcher Autorität ich gegenübersäße und wessen ich mich von nun an zu befleißigen hatte: Dem großen sozialistischen Werk zu dienen, das die Logik der Geschichte hervorgebracht habe. Natürlich konnte ich den Weg in den „verfaulten Westen“ gehen, aber immer hatte ich zu bedenken: Die Sowjetmacht ist groß, ihr Auge sieht alles und sie beherrscht die Welt. Denn ihr gehört die Zukunft und der Sieg. Dann folgte die Anweisung, wie ich fortan dem sowjetischen Staatswesen zu genügen habe, was ich zu tun und zu lassen hatte. Keine Form der Kritik. Und kein einziges Wort von dem, was ich hier erlebt und erfahren habe, weder zu Hause, noch in der Schule, nicht zu den Eltern und nicht zum besten Freund.
Mit der mir abgeforderten Unterschrift unter einen mir zugeschobenen
und vorgelesenen kyrillischen Text willigte ich ein in den teuflischen Pakt. Hätte ich den Vertrag ablehnen und den Weg in den Gulag, in das Verderben, riskieren müssen? Eigentlich ja. Nur war ich zu feige, das Leben aufs Spiel zu setzen. In dieser Stunde wog mir der in Aussicht gestellte Weg in die Freiheit mehr als jeder Heldenmut.
Kaum hatte ich meinen Namenszug beendet, nahm der Übermächtige das Blatt an sich und legte es zu den anderen Papieren auf der Seite des Tisches. War es schon meine Akte? Nun sah er mir mit todernsten Augen ins Gesicht und sagte: „Wir sehen uns wieder, in diesem Haus nebenan, pünktlich nach Tag und Stunde.“ Er nannte den Termin. Und ich erschrak über die kurze, mir gesetzte Frist. Sie betrug kaum eine Woche. Erwartet werde dann mein Bericht.
Frei geworden und doch schwer belastet, trat ich im Morgengrauen des Vorfrühlings auf die Straße und gefror plötzlich zu Eis. Absolutes Schweigen über sechs Wochen Hölle und das Wiederkommenmüssen!Wie aber werde ich den Eltern, den Mitschülern, meine Abwesenheit begründen? Eine Lüge fiel mir nicht ein. Auch nicht die Erklärung, wie der berühmte Anatom Struwe sie nach der Rückkehr aus einer analogen Abwesenheit den Studenten im Hörsaal der Charité gab. Er nahm ein Stück roter Kreide, mit der er im Unterricht die Arterien neben den blauen Venen an die Wandtafel zu malen pflegte, hob das Kreidestück in die Höhe und sagte: „Haben Sie bitte Verständnis, mir war die rote Farbe eine Zeitlang ausgegangen“.
Am Bahnhof in Schwerin angekommen, erreichte ich frühmorgens den ersten Zug nach Parchim. Ich stieg in den letzten Wagen und trat auf die hintere Plattform hinaus. Jauchzen hatte ich mögen, da die Fahrt mich mit jeder Sekunde ein Stück weit von dem Höllenverließ entfernte. Doch sofort regte sich wieder der Gedanke, in nur einer Woche wieder dorthin fahren zu müssen, wie ein Fesselband um den Hals. Naiv genug, bis zum Abitur, das mein Lebensziel war, durchhalten zu können, war ich noch immer nicht bereit zur Flucht. Vielmehr klammerte ich mich verzweifelt an die Hoffnung, die mir bevorstehende Tortur des Geheimdienstes auf die Schwejk’sche Art, wie sie mir offensichtlich im entscheidenden Verhör geholfen hatte, bis zum Schulabschluß, der in wenigen Wochen bevorstand” durchzustehen, war der Erfolg mir doch von „Ema“, unserem hochverehrten Klassenlehrer Ernst Moritz Arndt, trotz meiner längerfristigen Schulausfalle im letzten Jahr, zugesagt worden, sogar unter Verzicht auf eine mündliche Prüfung, dank meiner guten Leistungen.
Das Rattern der Eisenbahnräder auf den ramponierten Gleisen hämmerte mir die stupide Wäschesuche und das Ende mit dem Satz: „Das ist mein Hemd“, verbunden mit der Angst vor der Strafe im Falle einer anderen Wahrheitsfindung, und dann die Lappalie jenes beiläufigen Abwurfs des ausgewrungenen Hemdes in den Wäschekorb, wieder und wieder ins Gehirn. Wie soll ich die Farçe deuten? War ich zum Opfer einer infamen Lügenprobe geworden? Habe ich einer ungewissen Freiheitshoffnung wegen meine Wahrheitsliebe, meine Ehre, preisgegeben? Immer wieder neu kreisten meine Gedanken um diese Fragen. Und sie fanden kein Ende mehr und keinen Ausweg aus dem Netz der Lüge, vielleicht auch nur der Notlüge. Rechtfertigt die Gewissensnot einer extremen Belastung den Trieb in den Wahnsinn, den Realitätsverlust, die Glaubenszuversicht jenseits der Selbstwahrnehmung?
Wer den schizophrenen Zustand der Selbstverleugnung einmal erfahren hat, wird gewiß milder urteilen über den herben Spruch „Jedem ist das eigene Hemd am nächsten“. Er wird auch einem Bedrängten, der in seinem Tagebuch das gegen ihn gerichtete NS-Unrecht anprangert, nach seiner Befreiung aber das gleiche DDR-Unrecht persönlicher Privilegien wegen akzeptiert, ein gewisses Verständnis entgegenzubringen versuche. Und doch nagt der Zweifel – hier wie dort – am Gewissen. Habe ich mich dem mörderischen Stalin-System billig unterworfen, da ich den mir dargebotenen Köder annahm? Wurde ich mit der Hemd-Aussage tauglich für die menschenverachtende Ideologie der Lüge? Mein Gewissen hält dieses Verhalten, ungeachtet meiner psychischen Beschädigung, für unwiderruflich, auch dann, wenn eine ganz andere Erklärung für die mir auferlegte Wäsche-Suche auf dem Dachboden angenommen werden kann. Oder muß? Hätte mein Bewacher etwa nichts anderes mit mir vor, als sich selber den langweiligen Nachtdienst durch eine kleine Rauchpause unter dem Dach zu verkürzen?
Mag die Annahme einer „Lügenprobe“ letztlich als Hirngespinst gelten. Tatsache ist, daß ich den Entlassungstext unterschrieb. Daß ich dann schwieg und bereit war, dem Abiturwunsch zuliebe noch zweimal hinzugehen zu dem Geheimdienst-Treffen in Schwerin, wenn auch wegen der Nichtigkeit meiner Aussagen dort schwer getadelt und bedroht mit der erneuten Festnahme und Verbannung nach Sibirien.
In Parchim angekommen, ging ich, da die Schule um acht Uhr bereits begonnen hatte, in die mir vertraute Wohnung der Familie Günther. Mit Ingrid Günter, unserer Klassen-Jüngsten, hatten wir, ihre nächsten Klassenkameraden, manchen Abend heiter zugebracht. Ich genoß das mir köstlich dargebotene Frühstück und schlich, mehr als ich ging, die Blutstraße hinauf zur Oberschule. Gerade zu Beginn der ersten Pause trat ich den Klassenraum und begegnete einer gedämpften Stille. Die frühere Heiterkeit war seit dem Verschwinden von Clemens und Helmut verloren gegangen. Mein Erscheinen löste zwar hier und da verhaltenen Jubel aus, doch wich er bald einem nachdenklichen Schweigen, da ich auf die mich allseits bestürmende Neugier nur mit einem sehr ernsten “Bitte keine Fragen” antwortete und bat, jeden weiteren Kontakt mit mir, jede Äußerung und jedes Gespräch, möglichst zu unterlassen. Zwar wurde ich problemlos in die Klasse integriert. Und Ema ermutigte mich in jeder Weise zum Bestehen des Abiturs, obwohl die Klasse in meiner Abwesenheit bereits die schriftlichen Prüfungen abgeschlossen hatte.
Wie von mir erbeten, sah ich mich in den nächsten Tagen umgeben von einer schrecklichen Isolation. Die auf dem Schulhof zu verbringenden Pausen ließen mich zumeist allein und abseits stehend, erlöst aus der qualvollen Ewigkeit und den mißtrauischen, wenn auch sehr verstohlenen Blicken der anderen, nur von Biggi, meiner engsten Freundin, die mich nicht im Stich ließ.
Daß ich, im Gegensatz zu Clemens und Helmut und vielen anderen verhafteten Schülern aus der Parchimer und anderen Schulen, freigekommen war, weckte und schürte, wenngleich nicht unbegründet, ein nachhaltiges Mißtrauen gegen mich. Und dies umso mehr, als ich, der Sudetendeutsche, die russische Sprache im Gegensatz zu den meisten meiner Klassenkameraden gern und leicht erlernte und somit, von vornherein kein astreiner Mecklenburger, Katholik dazu, als Russisch-Liebhaber in Mißkredit stand, ein Vorurteil, das bis zur Wende 1989 und darüber hinaus Bestand haben sollte.
Dazu paßt die Begegnung mit einem mir nicht bekannten Mann, der kurz nach meiner Entlassung, unscheinbar in Zivil gekleidet, plötzlich vor der Oberschule auf dem Gehsteig vor mir stand, mich anstarrte und seltsam vertraulich sagte: „Mensch, daß Du wieder da bist!Wir dachten, Dich sehen wir nicht wieder“. Da ich, sprachlos geworden, schwieg, ging er rasch, ohne Gruß, davon. War es einer von den Informanten, die ich im Polizeirevier an mir vorbeischleichen sah zum Geheimbericht?
In Schwerin erwartete und verhörte mich ein GPU-Offizier. Seinen Fragen vermochte ich insofern indifferent auszuweichen, als ich ausführlich über den schulischen Alltag, den Unterricht mit seinen Inhalten, berichtete. Seine anfängliche Geduld im Zuhören ließ mich hoffen, auf meine Art durchzukommen. Wie schluckte, würgte, schwieg ich aber, als er plötzlich hochfuhr und mich anschrie: „Für heute ist es genug. Aber das nächste Mal, will ich mehr hören: Namen, Worte, staatsfeindliches Verhalten”. Er nannte den nächsten Termin. Und ich schlich gedemütigt davon.
Der nächste Termin kam schneller als befürchtet. Schon nach dem zweiten Satz, der ihm zu unergiebig war, herrschte er mich an, noch einmal dürfte ich so nicht kommen. Die Konsequenz wäre Sibirien. Daraufhin lenkte er Überraschen ein. „Natürlich kannst Du in den Westen gehen. Aber vergiß nicht, wir finden jeden. Und der Sieg gehört, historisch sicher, dem Kommunismus“. Zuckerbrot und Peitsche, Einschüchterung und Anbindung an die Sowjet-Ideologie.
Die Drohung saß tiefer und wirkte länger nach, als jemals gedacht. Der Tyrannei entzog ich mich drei Tage später durch die Flucht nach West-Berlin, allerdings unter Verzicht auf das Abitur. Ich hatte Glück: Der faule Westen gab mir Gelegenheit, das Abitur in Berlin-Tiergarten nachzuholen und das seit der Kindheit angestrebte Ziel, Medizin zu studieren und Arzt zu werden, an der Freien Universität Berlin zu erreichen. Als Arzt und Universitätslehrer erlebte ich nach dem Untergang Stalins 1953 auch den Zusammenbruch seines Machtapparates 1989. Aber niemals hoffen darf ich auf die Heilung der seelischen Narbe jener mir zugefügten „Lügenprobe”.
Guten Tag!
Ich bin ein Sohn von der im Text erwähnten “Biggi” und würde mich sehr über einen Kontakt freuen.
Mit besten Grüßen
Markus Sander (geb. Neumann)