Prof. Dr. med. Franz Klaschka

In Memoriam *1930 – †2006

“Die Hochzeitsreise” (1971)

Unsere Hochzeitsreise in die Marzipanstadt Lübeck Ende Marz 1966 war nach dem Frühstück bei Niederegger ganz unerwartet einem dichten Schneetreiben zum Opfer gefallen. Danach ließ uns der Beruf, die Erziehung der Kinder und die Konsolidierung des Hauses keine Zeit mehr für eine baldige Fahrt in den Urlaub. Fünf Jahre später erst konnten wir zu einer Nachhol-Reise aufbrechen. Wir flogen nach Madeira. Im warmen Süden hofften wir, die Klinik, Praxis und die Kinderstube zwei Wochen lang glücklich vergessen zu dürfen.

In Berlin lag Ende März zwei Meter hoch Schnee. Gleichwohl fuhren wir, wie uns geraten, mit leichtem Gepäck. Und wirklich begrüßte uns Madeira mit lachenden Sonnenstrahlen, blühenden Gärten und bizarrem Gestade aus schwarzem Lavagestein. Darüberhin schäumte die schneeweiße Meeresgischt und lud ein zum Bade in den von Steinmauern geschützten Beckenanlagen.

Kaum angekommen in der Herberge, einem stilvoll möblierten englischen Landhaus am Westrand der Hauptstadt Funchal, lockte uns der blaue Frühlingshimmel hinaus auf die Straße und dort immer weiter westwärts, durch Zufall nach Vale de Lobos, in jene Küstenbucht, in der Winston Churchill der Malerei gefrönt hatte. Schon nach wenigen Schritten auf der Straße gesellte sich ein Köter zu uns, der immer näher kam und zwischen uns lief, sobald ein Mensch in die Nähe kam. Weil jeder, der ihn sah, schon von weitem anfing, ihn zu beschimpfen und zu verspotten, ihn gar mit einem Stock oder Tritt zu vertreiben, bekamen wir Mitleid mit dem Tier. Ein Prachtexemplar war es gerade nicht, eher das Produkt einer Straßenmischung und ein ärmlicher, zerzauster Streuner dazu. Wir kauften im nächsten Lebensmittelgeschäft, das dürftig neben der Straße stand, ein Stück Wurst und einen Kanten Brot für ihn. Er schnupperte nicht einmal daran, als ich ihm den Leckerbissen darbot, und ließ ihn sogar, behutsam hingeworfen, unbeachtet auf dem Boden liegen. Stundenlang aber lief er neben und zwischen uns, ständig auf der Hut vor näherkommenden Passanten. Uns gegenüber wurde er eher zutraulicher. Und er begleitete uns auf dem Rückweg bis in unsere Pension.

Als wir nun aber das Eingangstor erreichten, stürzten sich die Mädchen des Hauses, Empfangsdame, Zimmerfräulein und Serviererinnen, alle auf einmal, mit lautem Geschrei, bewaffnet mit Stöcken und Steinen, auf den bescheiden, fast traurig wirkenden Hund. Obwohl dort kein Unbekannter, wurde er doch unerbittlich fortgejagt.

In diesem Moment fuhr eine schwere englische Limousine durch die Einfahrt in den Hof. Ein junges, offensichtlich gut situiertes Brautpaar im hochzeitlichen “Outfit” stieg aus dem Fond und wurde allseits auf das freundlichste begrüßt. Unmengen von Reisegepäck wurden entladen und ins Haus getragen. Während Braut und Bräutigam glücklich lächelnd dem Eingang zustrebten und ihrem Gemach im Obergeschoß, hatte der Hund gerade Reißaus genommen und den Hof verlassen.

Am nächsten Morgen kam uns auf dem Weg in den Frühstücksraum von der Treppe her ein Bild des Jammers entgegen. Am Arm des Übernächtigten und übelgelaunten Bräutigams hing eine über und über von Insektenstichen bedeckte, verzweifelte Gemahlin im seidenen Nachtgewand. Meine Frau und ich, durchaus bereits abgebrühte Hautarzte, waren tief beeindruckt von den fingerkuppengroßen Quaddelbildungen und blasigen Aufwölbungen, generalisiert angelegt vom Gesicht, über Hals, Brust und Rücken bis zum Oberschenkel und stellenweise gezeichnet von Kratzspuren mit blutigen Auflagerungen.

Wir waren beeindruckt von dem, wie uns schien, unvergleichlichen Beißerfolg parasitärer Insekten. Was aber war der Grund für deren einzigartige Hinwendung zur Braut, ob Mückenstiche oder Wanzenbisse, die Frage mußte offen bleiben, auch dann, als das Paar vom Arztbesuch zurückkehrte, den wir ihm dringend angeraten hatten. Was immer es war, für uns kamen nur Flohstiche in Betracht. Der Hund mußte nach allem, was wir mit ihm erlebt hatten, der verflohte Flugzeugträger gewesen sein, von dem während der kurzen Begegnung im Hof eine Invasion auf das duftende Brautangebot erfolgt war – mit maximalem Einschlag. Auffallend nur, daß die Flöhe uns – stundenlang begleitet und doch – absolut verschont hatten.

Nach dieser Überraschung gleich am ersten Tag auf Madeira folgten von Tag zu Tag neue überwältigende Ereignisse. Die Schlittenfahrt auf dem Steinpflaster vom steilen Berg herab, die Stadtausflüge in der Sanfte, von schlecht bezahlten Kulis getragen, hatten wir bereits ebenso hinter uns wie das fortwährende Angebot von Proben trockenen, süßen oder Medium-Wein der Insel, ob wir eine Postkarte kauften, eine Briefmarke oder was auch immer.

Zum Hohepunkt wurde nun aber die Begegnung mit der Familie Marques de Pombal, den Besitzern des ältesten Weinhandelshauses von Madeira in Funchal. Ein Ehepaar aus Offenbach am Main, Inhaber einer Schuhfabrik dortselbst und bekannt mit Familie de Pombal, hatte uns am Frühstückstisch als Berliner Hautärzte erkannt und gefragt, ob wir bereit waren, eine sehr nette einheimische Familie zu beraten. Kaum hatten wir uns damit einverstanden erklärt, erschien eine überaus vornehme, elegant und doch schlicht gekleidete Dame unprätentiös, freundlich und angenehm geradeheraus, gleichwohl sympathisch distanziert, im Empfang, um uns einzuladen zu einer Fahrt mit dem Automobil durch Land und Stadt und schließlich zu ihr nach Hause.

Sie sprach Englisch, so gut oder so schlecht wie wir auch, und wo das Englische nicht ausreichte, half das Französische weiter. So genossen wir die Fahrt im Hochglanz des Oldtimers an der Seite der Dame, die mit seidenen Handschuhen am Lenkrad saß und uns das Sehenswerte der Stadt vorwies. Zum Hochgenuß der Stunde wurde uns die ihr von allen Seiten entgegen gebrachte Aufmerksamkeit und Hochachtung. So stoppte der Verkehrspolizist in schwarzblauer Uniform und weißem Dekor an jeder Straßenkreuzung, sobald er den Wagen der Donna de Marques kommen sah, unverzüglich den Autostrom, sodaß die Fahrbahn für die Dame frei blieb. Und während sie gemessenen Tempos, huldvoll winkend, den Posten passierte, nahm dieser die charmanteste stramme Haltung an und legte seine in weißem Leder versteckte Hand lässig an die rechte Krempe des schmucken Helms. Ein Bild, das uns imponierte und das sich fortwährend wiederholte.

In der mittleren Oberstadt fuhr der Wagen durch ein verziertes schmiedeeisernes Tor in den von Steinmauern eingefaßten weiten Hof einer Quinta, die parkähnlich umgeben war von Palmen und Obstbäumen mit tropischen Früchten. Die Familie de Pombal bewohnte keine Villa, sondern ein uraltes Steingebäude, dessen Mauern außen wie innen die Spuren atmosphärischer Feuchtigkeit aufwiesen. In krassem Gegensatz zum Mauerwerk bildete die kostbare Einrichtung, erlesene Schränke, Kommoden, Schmuckbehälter aus schwarzem Edelholz, angefüllt mit Elfenbein, Silbergeräten und Porzellan in reicher Form und Zahl, eine Augenweide, die uns von Raum zu Raum mehr anzog und fesselte. Des Bestaunens und Bewunderns der Schätze, die seit dem 16. Jahrhundert aus Indien, China, Japan und der sonstigen Welt, England und Frankreich nicht ausgenommen, als Geschenk- oder Sammelstücke im Gegenlauf zum Weinexport hereingekommen waren, gab es kein Ende, bis zum Tee gebeten wurde.

Dann erfuhren wir äußerst dezent vom Anliegen, das die Familie so sehr bedrückte, daß es Donna Theresa ebenso schwer fiel wie ihrem Ehemann Dam Pedro, ohne unsere fortwährende Ermutigung eine zusammenhängende Darzustellung vorzubringen. Dom Pedro, ein etwas kleinerer faltengesichtiger Endvierziger, dessen froschähnliches Auftreten stark kontrastierte zum vollendeten Bild seiner Frau, erwies sich zunehmend als gewiefter, kenntnisreicher und warmherziger Vater. Es ging – das Arztgeheimnis gebietet uns zu schweigen – um eine krankheitsbedingte Wesensveränderung ihres jüngsten Sohnes, die das Familienglück erheblich belastete und nach Abhilfe drängte – um jeden Preis der Welt. Wir vermochten die Diagnose bald einzugrenzen, um aber therapeutisch wirksam zu werden, dazu fehlte uns die fachliche Kompetenz. Immerhin vermochten wir, eine direkte ärztliche Verbindung herzustellen zu einem uns nahestehenden Spezialisten und – bei aller Zurückhaltung – eine optimistische Prognose zu stellen. Die Freude der Eltern war groß. Und noch größer erwies sich ihre Dankbarkeit, nicht in Form eines Honorars, sondern, was unschätzbar ist, als eine von Herzensgüte getragene Freundschaft, die auch dann noch anhielt, nachdem der Sohn geheilt worden war.

Den Abend verbrachten wir mit Dam Pedro und Donna Theresa in einer der typischen portugiesischen Funchal-Bodegas auf der Anhöhe mit weitem Blick über die Stadt und das Meer. Zur Sangria genossen wir getrockneten und köstlich angerichteten Kabeljau und zum frischgebackenen Fladenbrot, das vor unseren Augen aus dem Steinofen kam, den vor jedem Tischplatz aufgehängten Fleischspieß, unter dem eine Flamme brannte und die Knoblauchbutter-Beize von oben nach unten über die krosse Außenkante des Spießes in die Auffangschale darunter träufeln ließ. Ob Fleisch, ob Brotstippe, unübertroffen beides. Und die Sangria ohne Ende vollendete das mit Nachtisch in vielerlei Form kredenzte Mahl. Daß im Nebenraum eine grölende Touristengruppe aus Schweden saß, torkelte oder am Boden lag, nahmen wir billigend in Kauf.

Von nun an verging kaum ein Tag ohne eine Begegnung mit Donna Theresa. Sie holte uns, einmal mit, einmal ohne Dam Pedro, ab nach Hause, zeigte uns weitere Schätze und Geheimnisse, insbesondere einen kunstvoll gefertigten Tisch mit Intarsien, der ausgestattet war mit vielerlei geheimen Verstecken. Nur trickreiche Kniffe oder Bewegungen konnten sie dem Eingeweihten erschließen. Vom Stadthaus fuhren wir bergan zu einer Parkanlage mit Eukalyptus-Hain, in dem das Sommerhaus de Pombals stand. Die weißen Schonbezüge wurden entfernt, die Rohrmöbel entstaubt und wir zu Tisch gebeten. Ganz überraschend öffnete Theresa dann eine geheime Wandtür, wählte eine der dort verwahrten Madeira-Bouteillen von alter bester Qualität und lehrte uns den Unterschied zwischen den alltäglichen Verkostungen im Treiben der Stadt und dieser edlen Kreation.

Weiter hinauf ging es, vom Park in 800 m Höhe zum Berggipfel der Insel oberhalb der Baumgrenze. Einem Adlernest gleich lag, 1.800 m hoch, die steinerne Hütte im erfrischenden Höhenwind über vereinzelten weißen Wolkenschiffen. Sie glitten unter uns vorbei und gaben. fern der feuchten Schwüle am Strand, den Blick frei nach allen Richtungen bis zum Meereshorizont. Park und Adlerhorst gehören neben den Keltereien und Kellereien zum Besitz der Marquez de Pombal.

Anderntags führte uns Donna Theresa in eine abgelegene Region jenseits der Hauptstadt. Sie zeigte uns das armselige Leben der Frauen und Mädchen, die auf der Türschwelle oder einem Bänkchen davor sitzend bis in die Dämmerung hinein feinste Stickereien ausführen und Häkelarbeiten für einen Hungerlohn. Jeder Verkauf ist Ihnen verboten, auch uns gegenüber, zur Strafe würde ihnen von den Auftraggebern die weitere Arbeit entzogen.

Über steile Hange, vorbei an aufragenden und abfallenden Steinterrassen, in denen Wein angebaut wird, kutschierte uns Donna Theresa am letzten Urlaubstag zu einer am Westrand der Insel über den Felsenklippen angelegten Gärtnerei. Ein Traum aus Farben und Formen von Blumen empfing uns zu einem ausgedehnten Rundgang durch eine grandiose Blütenwelt. Zum Abschied bekam Alma einen armdicken Strauß der schönsten Blüten, insbesondere leuchtende Strelitzien, als Geschenk überreicht. Der Strauß war so groß, daß er – nach Teilung mit den Urlaubsfreunden – in schönster transportabler Auswahl mit uns den Heimflug antrat und nur mit Mühe Platz fand auf der Ablage. Der Flug ging von Faro über Paris nach Frankfurt/Main. In Paris fiel Schnee. Vor dem Einstieg stand eine Gruppe schmuckbeladener, kosmetik-angereicherter und in teuersten Nerz gehüllter Neureich-Damen, typische Exemplare der mediokren bundesdeutschen Diplomatie und Handelswelt, die vom Einkaufsbummel in Paris den Heimflug antraten. Auf Almas überwältigenden Blumenstrauß aufmerksam geworden, reckten sich ihr die goldbehangenen Halse entgegen und, mit wegwerfenden – oder neiderfüllten – Blicken gespickt, bewegten sich die mit Rot, Lila oder Blau satt bedeckten Lippen laut vernehmlich dem leichten Popelinmantel von Alma entgegen: „Nischt zum Anziehen, aber teuere Blumen!“. Wir näherten uns ohne Zweifel der neudeutschen Heimat.

In Berlin saß, als wir vor dem Haus aus der Taxe stiegen, unsere zweieinhalbjährige Tochter Anne auf den Stufen vor der Tür, dick genudelt von Tante Anni, unserer Hausperle mit Großmutter-Allüren, und einer ebenso gestrickten älteren Nachbarin namens Löffelbein. Anne schaute desinteressiert an uns vorbei und begegnete unserer Begrüßung mit stoischer Gleichgültigkeit. Auch zeigten unsere Söhne kein bißchen Bereitschaft, ihr Spiel zu unterbrechen und uns wahrzunehmen. Zwei knappe Wochen hatten genügt, die Zuwendung der Kinder gegenüber den Eltern nachhaltig in Frage zu stellen. Ungeachtet der großartigen Urlaubstage auf Madeira und der uns dort zuteil gewordenen Freude, nicht zuletzt auch der ärztlich hilfreichen Ratschläge wegen, beschlossen wir als lernfähige Eltern, nie mehr ohne die Kinder eine Ferienreise anzutreten. Und so blieb es dann bis in die Zeit ihres eigenen Flüggeseins.

Es folgte eine Überraschung: Kaum zwei Tage zu Hause, erhielten wir per Post ein größeres Paket. Absender war der Schuhfabrikant aus Offenbach. Ihm hatte ich einmal gesprächsweise meine Not mit der gerade gängigen Schuhmode geklagt und ironisch die modisch-langen unphysiologischen Schuhspitzen aufgespießt mit der Pointe, daß ich erst wieder Schuhe kaufen werde, wenn sie vorne eine Herzform aufweisen. Das Paket enthielt vier Kartons mit Schuhen der vorzüglichsten Qualität und der mir genau zusagenden Form. Jedes Paar schien nach Wunsch gemacht und saß wie angegossen. Sie waren ein Geschenk und widerlegten meine Kritik für dieses Mal am Fehlgeschmack der Schuhmacherei.

 (aufgezeichnet im November 2001)

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This entry was posted on June 17, 2014 by in Biographisches, Familie.